# taz.de -- Arabische Revolutionen: Den Jemen gibt es nicht | |
> Die Unzufriedenheit mit der Regierung ist größer denn je seit der | |
> Wiedervereinigung von Nord und Süd 1990. Ein Besuch in einem gespaltenen | |
> Land. | |
Bild: "Geh weg!", fordern die Demonstranten: Präsident Saleh ist unter seinen … | |
ADEN/SANAA taz | Vermutlich 20 bis 30 Prozent der Jemeniten im Lesealter | |
können tatsächlich lesen. Unter ihnen ist der Schriftsteller Abdalkarim | |
ar-Razihi so bekannt wie in Deutschland vielleicht der Satiriker Dieter | |
Hildebrandt – und ebenso hoch geschätzt. Einmal sagte er: Wenn er die Wahl | |
hätte, mit der Königin der Niederlande eine Kuh zu melken oder mit der | |
Königin von Saba – der weltberühmtesten Jemenitin –, dann würde er die | |
Holländerin vorziehen. | |
Er musste seinem Publikum nicht erklären, dass es sich diese als Trampel | |
vorzustellen habe, deren Kuh die versprochene Milch aber wohl liefern | |
würde. In Sachen Selbstironie blicken die Jemeniten auf eine gediegene | |
Tradition zurück, Selbstzweifel sind im späten 20. Jahrhundert | |
hinzugekommen. | |
Die Selbstzweifel, auf die ar-Razihi nur anspielt, bringt eine Professorin | |
der Universität von Aden im Zwiegespräch auf den Punkt: "Araber sind dumm." | |
Warum? "Die USA wollen herrschen, auch indem sie ihre Waffen verkaufen. Und | |
die Araber kaufen sie." Ahlam Hibatulla Ali lehrt Zahnmedizin. Das Gespräch | |
mit ihr ergibt sich anlässlich einer Abschlussfeier Ende Januar an der | |
Universität. Die Professorin ist alt genug, um noch den sozialistischen | |
Südjemen erlebt zu haben. | |
Der Untergang des Sowjetimperiums kündigte sich damit an, dass | |
Vasallenstaaten nicht mehr alimentiert wurden. Die Regierung des Südjemen | |
gab 1989 auf und stimmte einer Vereinigung mit dem | |
traditionalistisch-islamischen Norden zu. Seither, sagt die Sozialistin, | |
eine emanzipierte Frau, habe sich wenig zum Guten gewendet. Nicht nur, dass | |
der Islamismus im Süden Einzug hielt, zudem sei der Jemen im westlichen | |
Verständnis des Wortes keine richtige Demokratie: "Hier regiert eine | |
Familie", der Präsident Ali Abdullah Saleh und sein Clan. | |
## Gut beschäftigt mit dem eigenen Machterhalt | |
Seit 1978 stand Saleh an der Spitze der nordjemenitischen Regierung, seit | |
der Einigung 1990 ist er Präsident des ganzen Jemen – ein Kunststück, über | |
das er sich halb selbstzufrieden, halb ironisch oft verwundert zeigte. Dass | |
es Saleh über Jahrzehnte gelungen ist, die verschiedenen Stammesfürsten und | |
ihre Krieger nicht gegen sich aufzubringen, lag vor allem daran, dass er | |
wusste, wem er wann Geld und Pfründen zuschustern musste, und wann es | |
geboten war, Repression einzusetzen. Damit war er gut beschäftigt. | |
Für die Infrastruktur des unterentwickelten Landes, das Gesundheits- und | |
das Bildungssystem hat die Regierung dagegen wenig getan. Viele der | |
Jemeniten, die jetzt gegen Saleh demonstrieren, glauben sogar, dass er sein | |
Volk absichtlich in Unwissenheit halte. Saleh regiere mit dem Stock, sagt | |
die Zahnärztin, "aber mit einem Stock, den er in der Mitte hält: Er teilt | |
in alle Richtungen aus." | |
Mittlerweile ist das Versiegen der jemenitischen Ölvorkommen abzusehen, das | |
Grundwasser wird unwiederbringlich ausgebeutet. Zusammen mit der Armut ist | |
die Unzufriedenheit gewachsen. Saleh ist bei den Jemeniten noch unbeliebter | |
als die Vereinigten Staaten. Dabei haben die USA sich aus den inneren | |
Angelegenheiten des Jemen herausgehalten. Die Jemen-Politik der USA ist von | |
strategischem Desinteresse geprägt und hat sich bisher im Wesentlichen auf | |
die – insgesamt unergiebige – Subventionierung des "Kampfes gegen den | |
Terror" beschränkt. | |
## Unterstützung von den Saudis | |
Von Übel in jeder Hinsicht ist hingegen der Einfluss Saudi-Arabiens. Nicht | |
zufällig sind Saudi-Arabien und der Jemen die einzigen Länder auf der Welt, | |
die kein Mindestheiratsalter festgelegt haben. Die Saudis haben sunnitische | |
Stammesfürsten im Jemen mit großen Summen alimentiert, darunter auch | |
solche, die nicht loyal zur Regierung stehen. Der seit Jahren andauernde | |
Aufstand der schiitischen Houthis im Norden des Jemen, der zeitweilig in | |
einen Bürgerkrieg gegen die Zentralregierung ausartete, wurde nicht zuletzt | |
von saudischen religiösen Netzwerken provoziert. | |
Anlässlich der Abschlussfeier an der Universität von Aden zeigt sich die | |
Macht des saudischen Geldes in Person: Scheich Abdullah Ahmed Bugshan, ein | |
Dollar-Milliardär, hat die Feier gesponsert. Der gebürtige Jemenit | |
entstammt dem Gouvernement Hadramaut, verließ seine Heimat zur Zeit des | |
Sozialismus und wurde in Saudi-Arabien reich. Nach dem Ende der | |
sozialistischen Republik Südjemen engagierte er sich in wieder im | |
Hadramaut: Er ist das Haupt der dortigen Unabhängigkeitsbewegung. | |
Gleichzeitig hat er einige Einrichtungen in Aden, vor allem die | |
Universität, mit 18 Millionen Dollar unterstützt. | |
Die Regierung in Sanaa verfolgt den Separatismus, Scheich Bogshan freilich | |
bleibt unbehelligt. Ist das normal? Der Uni-Dozent, an den die Frage | |
gerichtet ist, grinst verhalten und sagt: "Aber natürlich ist das normal." | |
Wie viele seiner Kollegen hat er in der DDR studiert und geht davon aus, | |
dass eine Deutsche ihn versteht, wenn er in ihrer Sprache so ironisch | |
redet, wie er es im Arabischen gewohnt ist. Jeder Jemenit weiß, dass die | |
staatliche Hoheit der Regierung begrenzt ist. Solange ein Multimillionär | |
keinen Bürgerkrieg vom Zaun bricht, kann er tun und lassen, was er will. Er | |
kann auch Geschäfte machen, die in anderen Ländern, die sich als | |
Rechtsstaat bezeichnen, unmöglich wären. | |
## Dem Sozialismus nachtrauern | |
Viele Südjemeniten trauern den Zeiten des Sozialismus nach: Damals kam der | |
Staat für die Gesundheit und die Renten der Bürger auf. Und das recht | |
effiziente Verwaltungssystem der britischen Kolonialherrscher hatten die | |
Sozialisten beibehalten. Das alles wurde nach der Vereinigung 1990 | |
abgeschafft. Aus dem Norden kam der Islamismus in den Süden und mit ihm die | |
Stammesloyalitäten, die man überwunden gewähnt hatte. In Aden kommentiert | |
ein Regierungsangestellter das so: "Ein Gesunder kann einen Kranken mit | |
seiner Gesundheit nicht anstecken, aber ein Kranker kann den Gesunden | |
anstecken." | |
Was in Westdeutschland die Ostfriesen waren, das sind im Südjemen die | |
Nordjemeniten: tumbe, leichtgläubige Hansel. Einer der vielen Witze geht | |
so: Der nordjemenitische Präsident kommt erstmals nach Aden, sieht das Meer | |
und ist bass erstaunt: "So viel hat es hier geregnet?!" Viele Nordjemeniten | |
halten die Landsleute im Süden, die solange ohne strenge Gottesfurcht | |
gelebt haben, für sittenlose, versoffene Libertins. Zudem wird den | |
südjemenitischen Regierungskritikern vorgehalten, dass sie sich immer noch | |
in der sozialen Hängematte räkeln wollten, die der Sozialismus ihnen | |
aufgespannt hatte. | |
Tatsächlich ist die Regierung in Sanaa selbst an massive finanzielle Hilfe | |
gewöhnt. Straßen, Häfen, Schulen, Krankenhäuser: Dafür hat man kein Geld | |
übrig, man lässt es sich vom Ausland bauen. Im Gegenzug ist Präsident Saleh | |
auch den westlichen Geberländern stets entgegengekommen. Pressefreiheit? | |
Kein Problem: Der Informationsminister, Hassan Ahmed al-Lowzy, ist nach | |
eigenem Bekunden der Erste, der es bedauert, wenn er die Ausgabe einer | |
Zeitung verbieten muss. | |
Menschenrechte? 2003 wurde das Ministerium für Menschenrechte gegründet. Es | |
fungiert als eine Art Beschwerdestelle, hat sich aber bisher nicht | |
sonderlich dabei hervorgetan, die eklatanten Schwächen der Justiz | |
auszugleichen. Auf die Frage nach der Zahl der politischen Häftlinge | |
antwortet die Ministerin, Huda al-Ban: "Politische Häftlinge gibt es im | |
Jemen nicht." Und wenn Journalisten eingesperrt werden, so liege es daran, | |
dass es in dieser Profession nun einmal auch Kriminelle gebe. | |
## Saleh hatte schon einen Termin bei Obama | |
Das Bemühen, sich alle gewogen zu halten, erstreckt Präsident Saleh auch | |
auf die USA. Wäre die Revolution in Tunesien nicht auf den Jemen | |
übergeschwappt – Saleh hätte Ende Februar einen Termin bei Barack Obama | |
gehabt. Mögen die Jemeniten die USA auch verteufeln, so wären die meisten | |
doch kolossal beeindruckt gewesen, wenn der Präsident der Vereinigten | |
Staaten den jemenitischen Präsidenten empfangen hätte. Auch daran zeigt | |
sich, was den Jemeniten an sich selbst am meisten missfällt: mangelnder | |
Stolz, mangelnde Unabhängigkeit. | |
Früher war der Jemen ein vergleichsweise weltoffenes Land, in dem alle | |
Arten Künste blühten. Doch die jahrtausendealte Fertigkeit der | |
Terrassenbewässerung ist in den vergangenen 20 Jahren verkommen. Die | |
jüdischen Handwerker, die sich in der Schmuckherstellung und der | |
Holzbearbeitung hervortaten, haben das Land vor Jahrzehnten verlassen. Die | |
Landwirtschaft hat sich zunehmend auf den Anbau der Droge Kat | |
spezialisiert. Industrie gibt es so gut wie nicht. | |
Hadi Eckert, ein Spezialist der Restaurierung alter Gebäude, lebt seit den | |
90er Jahren in Sanaa. Als die Unesco die Renovierung der Altstadt | |
anberaumte, gehörte er zu den Experten, die sich in Sanaa niederließen. | |
Eckert trennt scharf zwischen dem "alten" und dem "neuen" Jemen. | |
Den Unterschied macht er an einer Anekdote fest: Vor einigen Jahren sei er | |
in einer Provinzstadt gewesen; dort habe er sich zu einer Gruppe von | |
Männern gesellt, die - wie es früher allenthalben üblich war - einander zum | |
Zeitvertreib Gedichte rezitierten. Einer indes sagte kein Gedicht auf, | |
sondern auf Hebräisch einen Text aus der Tora. Wie das? Eckert wunderte | |
sich. Das sei leicht zu erklären, sagte der Mann: Früher habe er einen | |
Juden als Nachbarn gehabt, von ihm habe er einiges aus der Tora gelernt, | |
und dafür habe er ihm Verse aus dem Koran beigebracht. "Das", sagt Eckert, | |
"ist der alte Jemen." | |
22 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Franziska Augstein | |
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