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# taz.de -- Justizfarce in der Türkei: Ergenekon-Prozess droht zu scheitern
> Haltlose Anklagen, ausufernde Verhaftungen: Die Regierung Erdogan feuert
> den Chefermittler im Verfahren gegen mutmaßliche Putschisten und andere
> Seilschaften.
Bild: Demonstration für Pressefreiheit in Ankara. Zuvor waren mehrere Journali…
ISTANBUL taz | Der wichtigste Prozess der jüngeren türkischen Geschichte
droht zu scheitern. Das Ergenekon-Verfahren - Ergenekon steht für ein
mythisches Land der türkischen Frühgeschichte und ist ein Symbol der
Nationalisten -, mit dem die AKP-Regierung seit 2007 gegen mutmaßliche
Putschisten und andere nationalistische Seilschaften vorgeht, versinkt in
einem Wust immer haltloserer Anklagen und ausufernder Verhaftungen. Ende
vergangener Woche zog die Regierung unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan
die Notbremse: Der seit fast vier Jahren mit Sondervollmachten
ausgestattete Chefermittler Sekeriya Öz wurde von seiner Funktion
entbunden.
Als die Ermittlungen im Ergenekon-Verfahren nach einem Waffenfund in einem
Istanbuler Vorort begannen, konnten die Staatsanwälte sich auf eine breite
Zustimmung in der Gesellschaft stützen. Endlich, so schien es, sollten die
Mitglieder des so genannten "derin devlet" - zu Deutsch: der "tiefe Staat"
-, Militärs und Bürokraten, die seit Jahrzehnten im Hintergrund die Fäden
gezogen hatten und dabei vor Mord und Totschlag nicht zurückgeschreckt
waren, zur Verantwortung gezogen werden. Exgeneräle, aktive Militärs,
Geheimdienstler, Juristen und Geschäftsleute wanderten ins Gefängnis. "Die
Unberührbaren sind nicht mehr tabu", jubelten die Zeitungen.
Doch statt zügig die Anklagen vorzubereiten und den Leuten den Prozess zu
machen, wurden die Ermittlungen immer weiter ausgedehnt, folgte eine
Verhaftungswelle der nächsten. Immer häufiger wurden dabei Leute
festgenommen, deren angebliche Verbindung zu Ergenekon wenig plausibel war.
Stattdessen zeigten alle diese Verhaftungen eine klare Gemeinsamkeit: Die
Betroffenen waren allesamt mehr oder weniger bekannte Kritiker der
Regierung.
## 300 Angeklagte in U-Haft
Mittlerweile sitzen mehr als 300 Angeklagte in Untersuchungshaft in einem
extra für Ergenekon-Verdächtige neu gebauten Hochsicherheitstrakt im
Istanbuler Vorort Silivre. Durch die tausende Seiten Anklageschrift steigt
niemand mehr durch, zumal weite Teile für geheim erklärt wurden.
Der letzte Schlag, der das gesamte Verfahren jetzt diskreditiert hat,
erfolgte im März gegen zwei der bekanntesten Journalisten der Türkei, Ahmet
Sik und Nedim Sener. Beide haben sich gerade durch Recherchen über
Menschenrechtsverletzungen von Militärs und Geheimdiensten einen Namen
gemacht. Sie der Mitgliedschaft von Ergenekon zu bezichtigen, scheint
selbst vielen hartnäckigen Anhängern der Regierung unglaubwürdig.
Die Verhaftungen entfachten einen regelrechten Proteststurm, vor allem als
bekannt wurde, dass Sik gerade an einem Buch arbeitete, in dem die
Unterwanderung der Polizei durch die islamische Gülen-Sekte beschrieben
wird. Auf der Suche nach dem Manuskript mit dem Titel "Die Armee des Imam"
durchsuchte die Polizei die Wohnungen von Sik und Sener, Anwaltskanzleien,
einen Verlag und die Redaktion von Radikal, in der Sik arbeitet. Trotzdem
erschien das Manuskript Ende vergangener Woche im Internet und wurde noch
am gleichen Tag mehr als hunderttausendmal heruntergeladen.
Für die Ergenekon-Ermittlungen ist die Verfolgung eines investigativen
Buches über die derzeit einflussreichste islamische Bruderschaft der
Türkei, die eng mit der AKP zusammenarbeitet, ein Desaster. Selbst eine
erfolgreiche Verurteilung derjenigen, die zum harten Kern der Putschisten
gehören, droht zu scheitern.
4 Apr 2011
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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