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# taz.de -- Wahlkampf in der Türkei: Antikurdenpolitik soll Stimmen bringen
> Mit verschärften Repressionen gegen Vertreter der Minderheit buhlt
> Premier Erdogan um Wähler. Die Kurdenpartei BDP überlegt, die Wahlen zu
> boykottieren.
Bild: Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan bei einem Wahlkampfaut…
ISTANBUL taz | Osman Baydemir, Bürgermeister von Dijarbakir, der größten
Stadt im Südosten der Türkei, ist einer der populärsten kurdischen
Politiker des Landes. Mit rund 300 Einwohnern des Städtchens Sirnak
marschierte er vor einer Woche zur türkisch-irakischen Grenze. Die Menge
verlangte von den türkischen Truppen den Grenzübertritt, um die Leichen von
fünf getöteten PKK-Militanten zu bergen. Angehörige der getöteten PKKler
wollten ihre Söhne zurückholen und Baydemir unterstützte ihren Wunsch, die
Guerilleros würdig zu begraben.
Nach stundenlangen Verhandlungen durfte eine Gruppe die Grenze überqueren
und kam mit vier Leichen zurück. Weil die Soldaten die Herausgabe der
Leichen für eine Obduktion erzwangen, kam es zu Auseinandersetzungen, in
deren Verlauf Dutzende Kurden verhaftet wurden.
Die Zusammenstöße an der Grenze waren der letzte Auslöser für eine bis
dahin beispiellose Protestwelle. Die kurdische BDP rief zu einer
dreitägigen Trauer für 12 von der Armee getötete PKKler auf und der
allergrößte Teil der Bevölkerung schloss sich diesem Aufruf an. In allen
kurdischen Städten im Südosten schlossen die Geschäfte, niemand ging zur
Schule oder zur Arbeit. Stattdessen fanden überall Trauerdemonstrationen
statt.
Als Premier Tayyip Erdogan am letzten Freitag im Rahmen seiner Wahlkampagne
nach Van kam, musste die Veranstaltung von einem Großaufgebot der Armee
gesichert werden. Erdogans Wahlkampf wirkte wie der Auftritt eines
Politikers in einem besetzten Land.
## Neue Verfassung
Tatsächlich geht die öffentliche Wahrnehmung zwei Wochen vor den
Parlamentswahlen in den kurdischen Gebieten und im Rest der Türkei weit
auseinander. Während in den kurdisch bewohnten Gebieten seit Wochen
Aktionen des zivilen Ungehorsams propagiert werden, um zu erreichen, dass
die Regierung in Gespräche mit gewählten kurdischen Vertretern einwilligt,
erklärt Erdogan im Westen das Landes, die kurdische Frage sei erledigt.
Jetzt gehe es darum, die wirtschaftliche Situation im Südosten zu
verbessern.
Doch mit einem kurdischsprachigen Fernsehsender und einigen kurdischen
Sprachschulen lässt sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht zufrieden
stellen. Die Kurden träumen von Autonomie. Doch statt zu reden setzt
Erdogan nach dem Scheitern seiner kurdischen Friedensinitiative 2009 wieder
auf Repression. Hunderte politisch aktive Kurden sind angeklagt, zum
zivilen Arm der PKK zu gehören, alle Bürgermeister kurdischer Orte sind mit
Ermittlungen und Anklagen konfrontiert.
Aysel Tugluk, eine der einflussreichsten kurdischen Politikerinnen und
Anwältin des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalans, sagte vor zwei Tagen,
innerhalb der BDP werde überlegt, angesichts der Repression auf eine
Teilnahme an den Wahlen am 12. Juni zu verzichten.
Ministerpräsident Erdogan hat wohl derzeit andere Prioritäten als eine
Lösung der Kurdenfrage. Er will nach der Wahl eine neue Verfassung in
Auftrag geben, die ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild vorsieht.
Um das durchzusetzen, muss er am 12. Juni eine verfassungsändernde Mehrheit
erreichen. Das ist nur zu schaffen, wenn es ihm gelingt, die kleinere der
beiden Oppositionsparteien, die ultranationalistische MHP, aus dem
Parlament zu drängen.
Seine antikurdischen Politik zielt deshalb auf die MHP-Wähler. Zudem wird
die MHP mit Sexvideos führender Abgeordneter konfrontiert, die zu etlichen
Rücktritten geführt haben. Erst gestern verabschiedeten sich sechs teils
führende Parteileute aus der Wahlkampagne, weil sie erpresst werden. Kein
Wunder, dass Parteichef Devlet Bahceli überzeugt ist, dass die Regierung
hinter der Enthüllungskampagne steckt.
22 May 2011
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
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