# taz.de -- Krieg in Libyen: Die ganze Stadt ist ein Gefängnis | |
> Seit Wochen kämpfen die Rebellen in Misurata gegen die Truppen Gaddafis. | |
> Mittlerweile ist die Stadt komplett umzingelt, der Alltag ist geprägt von | |
> Dauerbeschuss. | |
Bild: Siegeszeichen in verzweifelter Lage: ein Bewohner von Misurata an der bes… | |
MISURATA taz | Die Detonation ist hart, heftig, unvermittelt. Sie findet in | |
einem weiter weg liegenden Gebiet statt und lässt eine dichte Wolke | |
schwarzen Rauchs zum Himmel aufsteigen. Saadoun al-Misurati schaut zum | |
Horizont und sagt: "Sie bombardieren wieder. Bisher war heute ein ruhiger | |
Tag. Gestern haben sie von 9 bis 1 und von 14 bis 19 Uhr Granatwerfer | |
eingesetzt. Mit nur einer Stunde Pause." | |
Willkommen in Misurata, dem einzigen Ort in Tripolitanien, der sich noch in | |
der Hand der Shebab al-Thaura befindet, der "jungen Revolutionäre", die | |
seit Februar gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi rebellieren. "Seitdem wir | |
die Stadt eingenommen haben, greifen sie ununterbrochen an. Sie wollen uns | |
mit Macht in die Knie zwingen", sagt Saadoun. Der 35-Jährige ist in | |
Großbritannien aufgewachsen und fungiert als offizieller Sprecher der | |
Kämpfer. | |
## Blockierte Zugänge | |
Seit dem 19. Februar, dem Tag, an dem Misurata dem Beispiel des Osten des | |
Landes gefolgt ist und sich gegen Gaddafi gestellt hat, ist der Alltag in | |
der drittgrößten Stadt Libyens unerbittlich von den nicht ablassenden | |
Attacken der Gaddafi-treuen Truppen geprägt. Diese haben mit ihren Panzern | |
außerhalb der Stadt Stellung bezogen und feuern mit Granatwerfern. In | |
verschiedenen Vierteln haben sie Heckenschützen, die auf alles zielen, was | |
sich bewegt. | |
Die Front verläuft längs der zwei Verkehrsadern, die den Zugang zur Stadt | |
markieren: der Bengasi-Straße im Osten und der Tripolis-Straße im Westen. | |
Aber sie verläuft wie Lavastrom, oft unkontrollierbar. Scheinbar sichere | |
Gebiete werden von Raketen getroffen. Ganze Viertel müssen infolge | |
unvermuteter Attacken geräumt werden und verwandeln sich innerhalb eines | |
Tages in Geisterzonen. | |
Misurata ist eine belagerte Stadt. Sie ist mittlerweile vollkommen | |
umzingelt von den Truppen Gaddafis, die alle Zugänge zur Stadt blockiert | |
halten. Der einzige Zugang ist über das Meer möglich. Auf diesem Weg ist es | |
auch dem Berichterstatter während einer der seltenen Feuerpausen gelungen, | |
in die Stadt zu gelangen. Zwei Stunden später liegt der Hafen unter | |
schwerem Beschuss. | |
Theoretisch gesehen kontrollieren die Rebellen die Zone zwischen dem | |
Stadtzentrum und dem Meer. Aber die Kontrolle ist nur zeitweise | |
gewährleistet, ihre Kräfte schwinden. An den Straßenrändern wurden | |
Schützengräben ausgehoben, Molotowcocktails liegen bereit für den Fall, | |
dass sich Regierungstruppen nähern. Auf dem Pflaster liegen benzingetränkte | |
Decken, die in brennende Hindernisse verwandelt werden können, um sich dem | |
Feind entgegenzustellen. | |
## Vorbereitung auf die endgültige Schlacht | |
Misurata bereitet sich auf die endgültige Schlacht vor. Bei den | |
Bodenkräften könnten die Unterschiede nicht größer sein: auf der einen | |
Seite die Tanks der Gaddafi-Getreuen, oft sogar mit Raketenwerfern | |
ausgestattet; auf der anderen Seite die stumpfen Waffen der jungen | |
Aufständischen. Im Unterschied zu Bengasi, wo die Shebab al-Thaura auch | |
Kalaschnikows haben und über mehrere Armeeposten mit schwerer Artillerie | |
verfügen, können die Kämpfer hier auf höchstens ein Gewehr pro | |
Blockadeposten zählen. | |
Misurata ist eine Enklave des Widerstands - isoliert vom Rest der Welt, der | |
internationalen Presse nicht zugänglich. Einige Viertel müssen seit 45 | |
Tagen ohne fließendes Wasser und Strom auskommen. Wie lange wird es noch | |
durchhalten? Trotz der Bombardements der Alliierten gegen die Bodentruppen | |
Gaddafis verlieren die Rebellen an Terrain. Die Front nähert sich dem Meer. | |
Die "befreite Zone" verkleinert sich immer mehr. Und die Stadt verwandelt | |
sich in ein Flüchtlingslager für ihre eigenen Bewohner. | |
Tausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen und leben nun in | |
Notunterkünften. Masoud Masoudi ist einer von ihnen. Der 50-Jährige mit | |
stattlicher Statur und wachen Augen kommt aus Ras Ammar, einem eher zentral | |
gelegenen Viertel nahe der Tripolis-Straße. Vor zehn Tagen wurde er gerade | |
noch rechtzeitig von den Shebab al-Thaura evakuiert, bevor sich sein | |
Viertel in ein Schlachtfeld verwandelte. Zusammen mit seiner Frau Boushra | |
und sechs Kindern sind sie in einer Schule unterkommen. | |
"Unser Haus wurden von Panzern zerstört. Wir besitzen nichts mehr außer | |
unserem Leben", erzählt er verzweifelt. Es gelingt ihm nicht, die Tränen | |
zurückzuhalten, während er seine wenigen Habseligkeiten zeigt - einen | |
Koffer mit ein paar Kleidungsstücken, ein paar Kekspackungen und Windeln, | |
die sie von den Kämpfern bekommen haben. | |
Der Angriff des Regimes in Tripolis auf Misurata ist erbarmungslos. Er | |
trifft die gesamte Stadt, spart niemanden aus. Die Detonationen haben die | |
Fenster der Häuser zerstört. Zivilisten sind Ziel von auf den Dächern | |
postierten Heckenschützen. "Gaddafi ist entschlossen, der einzigen Stadt in | |
Tripolitanien, die er nicht kontrolliert, eine Lektion zu erteilen", betont | |
Saadoun al-Misurati. Vor 15 Tagen schlugen Raketen in einer Menschenmenge | |
ein, die den von Tripolis verkündeten Waffenstilstand ernst genommen hatte | |
und friedlich demonstrierte. Nach einer Stunde waren 40 Tote zu beklagen. | |
"Exakte Angaben sind nicht möglich, aber wir können sagen, dass es seit | |
Beginn des Angriffs mindestens 400 Tote in Misurata gegeben hat", sagt Dr. | |
Mohammed Addamfour, während er in einem Zelt im Hof der Al-Hikma-Klinik | |
operiert. | |
## Überwiegend zivile Opfer | |
Diese ehemalige Privatklinik ist heute das wichtigste Krankenhaus der | |
Stadt. Das Zentralkrankenhaus wurde ständig mit Granatwerfern beschossen. | |
"Nach zwei Einschlägen dort im Hof haben wir alle Patienten | |
hierhergebracht", berichtet der Arzt. | |
Die Klinik ist überfüllt. Das Personal kommt nicht mehr hinterher; wer | |
keine lebensgefährlichen Verletzungen hat, muss warten. Addamfour verbindet | |
das Bein eines Patienten, während er erzählt. "Er hat sich Oberschenkel und | |
Schienbein gebrochen. Aber wir können ihn frühestens in zehn Tagen | |
operieren." Ein Gang durch die Krankenzimmer verdeutlicht die regellose | |
Härte der Schlacht um Misurata, die Saadoun betont hat: Die Patienten in | |
den Betten sind fast alle Zivilisten, Opfer von Bomben und Scharfschützen. | |
In einer Kammer liegen die Brüder Mohammed und Ali Emhemid, 11 und 14 Jahre | |
alt. Sie wurden von Bombensplittern getroffen, als sie vor ihrem Haus | |
spielten. Der jüngere ist rundum verbunden, er hat das linke Auge, die | |
rechte Hand und drei Finger der linken verloren. Seine Beine sind mehrfach | |
gebrochen. Der größere ist mit einer Verletzung am Bauch und einem | |
gebrochenen Schienbein "davongekommen". Ihr Vater ist bei ihnen. Liebevoll | |
fächert er Mohammed Luft zu, der Kleine versucht die Schmerzen tapfer | |
wegzulächeln. Dann bricht es aus dem Vater heraus: "Wo sind denn nun die | |
Vereinten Nationen? Wo ist die internationale Gemeinschaft? Sie müssen | |
dieses Massaker beenden!" | |
Auf der verlassenen Bengasi-Straße markieren ausgebrannte Autos, Reifen und | |
umgestürzte Müllcontainer die Frontlinie. Die Häuser ringsum sind voller | |
Einschusslöcher. Die Shebab al-Thaura haben sich hinter einer Ecke | |
verschanzt. Ab und zu lehnen sie sich raus. "Da drüben sind die | |
Scharfschützen", sagte einer von ihnen. Eine Minute später schlägt eine | |
Kugel ein, Rückzug ist angesagt. | |
## Die Stimmung ist gedrückt | |
Bei der Fahrt mit dem Auto durch die Stadt ergibt sich das Bild eines | |
Durcheinanders von Schützengräben, Kontrollposten und Barrikaden. Auf den | |
Straßen sieht man ausschließlich Kämpfer. Hier und da weht die | |
rot-grün-schwarze Fahne der Revolution. Die Stimmung ist gedrückt, ganz | |
anders als in Bengasi und den anderen Städten der "Freien Cyreneica". Die | |
Riten, die dort zum Alltag gehören - öffentliche Kundgebungen, | |
Versammlungen der Kämpfer, Al-Dschasira-Public-Viewing auf den Plätzen -, | |
hier in Misurata gibt es nichts davon. Die Zivilisten verkriechen sich in | |
den Häusern. Sie können nicht raus wegen der Scharfschützen, und sie können | |
nicht fliehen. | |
Misurata ist ein riesiges Gefängnis, wer drin ist, bleibt drin. Und wer | |
draußen ist, kann nicht rein: Nur selten gelingt es einem Schiff, die | |
Blockade zu brechen und Gaddafis Granatwerfern zu entkommen. | |
Auf dem Landweg ist die Stadt mit einer halben Million Einwohner seit 45 | |
Tagen dicht. Die Bewohner hoffen aus Erlösung, auf ein Eingreifen der | |
internationalen Gemeinschaft, auf das Vorrücken der Rebellen aus Osten. | |
Aber die Hoffnungen schwinden, und ihre Zukunft ist immer ungewisser. Denn | |
der Einzige, der näherrückt, ist der Feind. Misurata gleicht immer mehr | |
einer Stadt der lebenden Toten. | |
Aus dem Italienischen von Sabine Seifert und Ambros Waibel | |
7 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Stefano Liberti | |
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