# taz.de -- Ein starkes Stück Kunstgeschichte: Hamburger Pathosschule | |
> Eine Ausstellung in Hamburg widmet sich Aby Warburg und seiner Erfindung | |
> der Pathosformel. Die trug der große Bildwissenschaftler 1905 erstmals | |
> einem Publikum vor - ausgerechnet auf St. Pauli. | |
Bild: Griff auf Pathosformeln zurück, die aus der Antike stammten: Max Klinger… | |
HAMBURG taz | Lange hat das Millerntor-Hochhaus die Ecke | |
Reeperbahn/Budapester Straße in Hamburg dominiert. 1965 vom Architekten | |
Carl-Friedrich Fischer errichtet, ist es 30 Jahre später wegen Asbests | |
angeblich nicht mehr zu sanieren und wird am 19. Februar 1995 gesprengt: | |
Sekundenschnell stürzt es in sich zusammen, verschwindet in einer Wolke aus | |
Staub und Schutt. Unter den 80.000 Menschen, die in 200 Metern Entfernung | |
hinter Absperrungen stehen, bricht Jubel aus - wer damals nicht dabei war, | |
kann die Bilder bis heute auf Youtube sehen. | |
Nicht mehr teilen lässt sich aber der Jubel, mit dem diese erste | |
Vertikal-Sprengung eines Hochhauses in Deutschland damals bedacht wurde. Zu | |
sehr weckt der kollabierende Glas- und Stahlturm Erinnerung an den | |
Zusammensturz eines anderen Towers: des World Trade Centers am 11. | |
September 2001. | |
## Spukende Bilder | |
Man könnte an diesem Beispiel die These illustrieren, dass wir Bilder durch | |
die Brille anderer Bilder wahrnehmen. Dass Bilder nicht fixierbar sind, | |
sondern wandern, in neue Kontexte eintreten, dass sie spuken, frei | |
flottieren und sich immer neu gruppieren. Als Ironie der Geschichte müsste | |
dann erscheinen, dass diese moderne Sicht der Bildwissenschaft 1905 | |
erstmals vorweggenommen worden ist - an eben jenem Ort: Reeperbahn, Ecke | |
Budapester Straße. | |
Am 5. Oktober 1905 hielt dort, im neobarocken Konzerthaus Hamburg, der | |
Kunstwissenschaftler und Bankiers-Sohn Aby Warburg einen Vortrag, "Dürer | |
und die italienische Antike", in dem er zum ersten Mal den Begriff der | |
Pathosformel verwendete. Mit diesem Begriff versuchte Warburg zu fassen, | |
wie der Bildschatz der Antike in der Renaissance wieder aufgegriffen und | |
verwandelt wurde. | |
Das war der erste Schritt zur Erforschung eines "Nachlebens der Bilder" - | |
und damit von der Kunstwissenschaft hin zur modernen Bildwissenschaft und | |
dem mit ihr verbundenen "iconic turn". Laut einer zeitgenössischen | |
Pressenotiz waren mehr als 300 Zuhörern bei diesem Ereignis zugegen. Ob das | |
Publikum jubelte, ist nicht überliefert - Warburg sprach immerhin auf der | |
48. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner. | |
Gejubelt wird erst jetzt, im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle. | |
Mit einer kleinen, aber äußerst feinen Ausstellung. Kuratiert hat sie | |
Marcus Andrew Hurttig, der auch ein Stück Forschungsarbeit beigetragen hat: | |
Warburgs Vortrag über Dürer war bislang nur aus einer Zusammenfassung | |
bekannt, gänzlich unbekannt war, dass der Vortragende sich dafür | |
Anschauungsmaterial aus der Kunsthalle entliehen hatte, darunter Werke von | |
Albrecht Dürer und Andrea Mantegna. | |
Die damalige Warburgsche Ausstellung hat Hurttig nun rekonstruiert. Und er | |
hat ihr weitere Druckgraphiken des 15. und 16. Jahrhunderts zur Seite | |
gestellt, die Warburgs These vom Nachleben der Antike untermauern. Mit | |
Arbeiten Max Klingers und Arnold Böcklins zeigt Hurttig schließlich, dass | |
die antiken Pathosformeln bis zu Warburgs Zeit Eingang in die Kunst fanden. | |
Die Ausstellung liefert das Fundament zu einer größeren Warburg-Schau: | |
Voraussichtlich im Herbst wird in den Phönixhallen in Hamburg-Harburg | |
Warburgs Groß-Projekt des Mnemosyne-Bildaltas gezeigt. Warburg, der über | |
diesem Vorhaben verstarb, wollte dazu tausende von Bildern zusammenstellen | |
und in motivischen Reihen das europäische Bildgedächtnis struktural | |
erforschen. Die Pathosformel war ihm das Vehikel, mit dem man von einem | |
Bild zum nächsten kommt. | |
Auf dem Philologenkongress 1905 erläuterte Warburg sie an der Zeichnung | |
"Der Tod des Orpheus", die Dürer 1494 in Venedig angefertigt hatte. Orpheus | |
ist in diesem Bild auf die Knie gesunken und hält schützend einen Arm | |
angewinkelt über seinen Kopf, während von links und rechts zwei Mänaden mit | |
Flegeln auf ihn eindreschen. | |
Vor Warburg ist die Figur des Orpheus naturalistisch gesehen worden. Die | |
Antike sah man seinerzeit mit den Augen Johann Joachim Winckelmanns, | |
entdeckte sie also nur dort, wo "edle Einfalt" und "stille Größe" waltete. | |
Von jener Coolness ist aber bei Dürers Orpheus nichts zu sehen, folglich | |
musste er dessen Stellung direkt nach der Natur gezeichnet haben - oder | |
imaginiert. | |
## Dürer, der Germane | |
Dahinter stand, wie Hurttig sagt, auch ein ideologisches Kalkül: Dürer, so | |
wollte man es zur Zeit der nationalstaatlichen Entwicklung Deutschlands, | |
sollte als nordischer, als germanischer Meister gelten. Einer, der dem | |
Typisieren der Klassik ein ungebändigtes, individualistisches Kunstwollen | |
entgegensetzte. | |
Diese Perspektive konnte sich zwar auf den Ausspruch Dürers berufen, dass | |
jeder deutsche Meister auf "eine neue Fatzon" ziele, "die vorher nie | |
gesehen wär". Im Fall der Orpheus-Zeichnung ging sie aber in die Irre. | |
Warburg demonstrierte das unter anderem anhand der Abbildung eines | |
Grabreliefs aus dem Jahr 393 v. Chr., auf dem eine Figur in selber Haltung | |
niedersinkt wie Dürers Orpheus. Also nichts da mit freiem Ausdruck. | |
Dürer habe sich, so Warburg, eines in der Antike weit verbreiteten Typus | |
bedient, allerdings nicht direkt, sondern über einen ferrarischen Meister | |
der Frührenaissance, den er kopiert haben soll. Mittlerweile wird | |
angenommen, dass Dürer den Tod des Orpheus nach einer verlorenen Vorlage | |
von Andrea Mantegna gezeichnet hat. Am Befund ändert das nichts: Mit | |
Warburgs Vortrag war der rein deutsche Dürer futsch und Winckelmanns | |
Antikenbild gleich mit. | |
Dürers Orpheus, die eindrucksvollen Stiche von Mantegnas Seeungeheuer und | |
Antonio Pollaiuolos Kampf nackter Männer: Sie alle zeigen deutlich, wie | |
sehr die Maler der Frührenaissance in der Antike nicht nur stille Größe | |
suchten, sondern Dramatik, Drastik, Bewegung. Wie sie die Antike nach dem | |
durchkämmten, was Nietzsche in der "Geburt der Tragödie" - auf die der | |
Ausstellungstitel anspielt - in Abgrenzung zum Apollinischen das | |
Dionysische nannte. | |
Gewiss, das alles ist ein hartes Stück Kunstgeschichte. Aber die hat auch | |
ihre heitere Seite. Passt es nicht wunderbar ins Bild, dass Warburg sein | |
nietzscheanisches Antikenverständnis just auf St. Pauli in die | |
Kunstgeschichte eingeführt hat - auf dem dionysischen Pflaster par | |
excellence? Und das auch noch vor einer Philologen-Schar. | |
Über die hat Nietzsche, selbst einer, geschrieben, sie wähnten mit der | |
Kenntnis des Altertums auch die Gegenwart zu verstehen, während doch | |
umgekehrt das Altertum erst verständlich wird aus den Erlebnissen der | |
Gegenwart. Das muss auch heute noch - erst recht nach so viel | |
Kunstgeschichte - als Warnung gelesen werden. Gerade auch angesichts des | |
"Bacchanal mit Weinpresse" von Mantegna: Auf dem wunderbaren Blatt wird | |
gebechert und geliebt. Aber das hilft einem nicht, St. Pauli zu verstehen. | |
Eine durchzechte Nacht auf der Meile hingegen hilft, Mantegna zu verstehen. | |
12 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Maximilian Probst | |
Maximilian Probst | |
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