# taz.de -- Sarrazin und kein Ende: Der Wankelmütige | |
> Die Parteispitze hat das Ausschlussverfahren gegen Sarrazin kurz aber | |
> schmerzvoll beendet. Im Zentrum der Kritik steht Andrea Nahles. Warum | |
> nicht Parteichef Gabriel? | |
Bild: Heute so, morgen so? Vor einem halben Jahr geißelte Gabriel Sarrazins Th… | |
BERLIN taz | Für Sigmar Gabriel war die Sache klar. Sarrazin rechtfertigt | |
"eine Politik, die wertvolles und weniger wertvolles Leben unterscheidet". | |
Selten, so der SPD-Chef, habe es in der Republik "eine so unverblümte | |
Wiederbelebung der ständischen Gesellschaft gegeben". Deshalb, so das | |
Resümee, muss Sarrazin ausgeschlossen werden. Wenn die SPD so jemand weiter | |
in ihren Reihen dulde, so Gabriel, dann gebe sie alles auf, "was die | |
Sozialdemokratie ausmacht". | |
Das hat er vor gut einem halben Jahr, am 15. September, in der Zeit | |
geschrieben. Es war ein Donnerwort des Vorsitzenden, der damit auch | |
Zweifler überzeugen wollte, die ihn für wankelmütig und positionslos | |
halten. Wer sich mit so viel Verve an die Spitze der Anti-Sarrazin-Bewegung | |
stellt, der legt sich fest. Eigentlich. | |
Sigmar Gabriel ist derzeit im Urlaub. Er hat knapp verlauten lassen, dass | |
er Generalsekretärin Andrea Nahles "Rückendeckung" für die Einigung mit | |
Sarrazin gibt. Mehr nicht. Sarrazin hat erklärt, dass "alle Kinder als | |
Menschen gleich viel wert sind". Das muss reichen. Nahles rechtfertigt den | |
halbgaren Kompromiss, weil Sarrazin "seine sozialdarwinistischen Äußerungen | |
relativiert hat". Das ist verwunderlich. Wie kann, was für den SPD-Chef vor | |
wenigen Monaten noch ein Angriff auf das Herz der SPD war, nun etwas sein, | |
von dem man sich wachsweich distanzieren darf? | |
Laut Teilnehmern am Treffen der Schiedskommission hat zudem nicht Sarrazin | |
selbst diese halbe Distanzierung verfasst. Die Schiedskommission habe den | |
Text vorgelegt, Nahles habe als Erste zugestimmt, unter diesem Druck gaben | |
auch die übrigen Kläger wie der Landesverband Berlin und der Ortsverein | |
Frankfurt nach. Will sagen: Das Ende des Verfahrens kam auf Nahles sanften | |
Druck zustande. | |
Es ist kein Wunder, dass Nahles nun alle Pfeile auf sich zieht. Die | |
hessischen Jusos fordern sogar ihren Rücktritt. Machtpolitisch ist das | |
nicht erheblich. Aber es zeigt, dass Nahles sowieso prekärer Ruf bei der | |
SPD-Linken nochmals gelitten hat. | |
Die Schadensliste der SPD im Fall Sarrazin ist damit noch etwas länger | |
geworden. Es begann 2009 mit einem Ausschlussverfahren des Landesverbands | |
Berlin, das eingestellt wurde. Dann, nach Erscheinen des Bestsellers | |
"Deutschland schafft sich ab", mobilisierte die SPD-Spitze mit dem zweiten | |
Ausschlussverfahren Konservative wie Klaus von Dohnanyi, gegen sich. Jetzt, | |
nach der Rolle rückwärts, geben Migranten empört ihr Parteibuch zurück. Das | |
muss die SPD schmerzen: Migranten sind in der SPD dramatisch | |
unterrepräsentiert. Der Parteivorstand und die SPD-Kabinette in den Ländern | |
sind ethnisch rein deutsch. | |
## Die SPD kann nicht gewinnen | |
Es bleibt die Frage: warum dieser Zickzackkurs? Dafür gibt es zwei | |
Erklärungen. Die erste: Wahlkalkül. Die SPD-Führung hat zu spät begriffen, | |
dass es an der SPD-Basis auch viele Sarrazin-Anhänger gibt. Um die mit | |
Blick auf die Wahl in Berlin im Herbst nicht zu verschrecken, beerdigte man | |
unauffällig das Ausschlussverfahren. Dafür spricht etwa der Termin, direkt | |
vor Ostern, der für möglichst geringe Publizität sorgen sollte. | |
Die zweite Erklärung lautet: Die SPD-Spitze hat zu spät verstanden, dass | |
sie das Ausschlussverfahren nicht gewinnen wird. Martin Morlok, Experte für | |
Parteienrecht, hält es für schwierig, Sarrazin wegen des Verstoßes gegen | |
SPD-Grundwerte auszuschließen. Dafür brauche man "handfeste Belege", so | |
Morlok zur taz. Ein Widerspruch gegen abstrakte Grundwerte wie | |
Chancengleichheit genüge nicht. Vielmehr müsse gezeigt werden, dass | |
Sarrazin konkret gegen Verhaltenspflichten verstoßen hat. "Auf diesen | |
Nachweis wäre ich gespannt gewesen", so Morlok. | |
Sarrazin hatte angekündigt durch alle Instanzen zu gehen. Auf Hilfe von | |
staatlichen Gerichten hätte er dabei aber, so Morlok, kaum zählen können. | |
Es gebe keine Richter, die nach einem geordneten Parteiausschlussverfahren | |
"der SPD erklären, was ihre Grundwerte sind". Will sagen: Der Ball liegt im | |
Feld der SPD. | |
So oder so - Gabriel kann die Frage nicht beantworten, was sich seit Herbst | |
2010 geändert hat. Denn die Sachlage ist genau die gleiche. Und Gabriel | |
wirkt wie einer, der mit Fanfarenstößen in die Schlacht zieht und auf | |
halbem Weg umdrehen lässt. | |
Die SPD hofft, dass sie das Thema nun los ist. So ist es nicht. Sie ist | |
abhängig davon, dass Sarrazin fortan Rücksicht auf die SPD nimmt. | |
27 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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