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# taz.de -- 1. Mai in Berlin wieder politisch: Die neue G-Frage
> Gentrifizierung ist der neue Kampfbegriff. Bei fast allen Protesten geht
> es um den Einsatz für Frei- und Wohnräume. Damit erlebt der Tag endlich
> eine Repolitisierung - auch wenn es abends noch zu Gewalt kommt.
Bild: Auftakt der 18-Demonstration am Sonntag in Berlin
Er ist der erste Redner am Sonntagabend auf der "Revolutionären
1.-Mai-Demonstration". Tausende drängeln sich auf der Kottbusser Brücke,
warten auf den Beginn des 18-Uhr-Aufzugs. Und oben im Lautsprecherwagen
ergreift "ein Vertreter der Schillerkiez-Ini", einer kleinen, linken
Nachbarschaftsgruppe aus Neukölln, das Mikro. "Von den Parteien brauchen
wir nichts zu erwarten", sagt der kräftige Mann. "Wir müssen Akzeptanz in
den Kiezen sammeln und Stadtteilbanden bilden."
Nicht weit hinter dem Lautsprecherwagen formiert sich ein Demoblock mit dem
Transparent "Mieter runter, Löhne rauf". Aktivsten tragen
"Mietenstopp"-Schilder. "Die Wohnfrage ist ein Teilkampf, der auch am 1.
Mai geführt wird", sagt einer. Dann zieht der Demo-Tross gen Neukölln.
Gerade dort seien viele Menschen von Mietsteigerungen und Verdrängung
bedroht, hatten die Organisatoren die neue Route im Vorfeld begründet.
Die Kampfparole Gentrifizierung - sie ist allgegenwärtig an diesem
1.-Mai-Wochenende. Nicht erst auf der 18-Uhr-Demonstration. Bereits um
16.30 Uhr formieren sich Linke unangemeldet am Mariannenplatz zu einem
Demo-Zug. "Stadt für alle", kündet ihr Fronttransparent. "Die Häuser denen,
die drin wohnen" ist ihre Parole. Mitten durch die picknickende Menge auf
dem Mariannenplatz laufen die Protestler, drängen sich anschließend durch
die Myfest-Massen bis zum Kottbusser Tor - begleitet von einer Schar
aufgeregter Zivilpolizisten. "Alles für alle", wird ein letztes Mal
gerufen, dann zerstreut sich der Aufzug.
Zuletzt wurde dem Berliner 1. Mai alljährlich seine Entpolitisierung, seine
Überholtheit attestiert: Flaschenwürfe gegen Staat und Kapital und am
nächsten Tag wieder in den Alltag schlüpfen. Diesmal ist es anders. Bis in
die Abendstunden bleibt es friedlich. Erst gegen Ende der 18-Uhr-Demo
fliegen in Neukölln Steine, werden Polizisten angegriffen. Zwar muss die
Polizei auch in der Walpurgnisnacht einige Flaschenwerfer festnehmen,
insgesamt blieb es aber ruhiger als früher. An diesem Wochenende füllen
stadtpolitische Appelle die inhaltliche Lücke der Vorjahre. Gegen
Mietsteigerungen, für alternative Lebensräume, gegen glatt-aufgewertete
Fassaden, für Vernetzung der Bewohnerschaften. Vieles bleibt dabei
plakativ, bleibt plattes "Yuppie-Bashing" oder krudes Warnen vor
"Touristifizierung". Dennoch hat das Thema Stadtaufwertung den 1. Mai
politisch wieder ins Jetzt geholt. Hat ihn wieder anschlussfähig gemacht.
Etwa am Samstag. Rund 1.500 Menschen versammeln sich am Nachmittag am
Rosenthaler Platz zu einer gentrifizierungskritischen Vorabenddemo. Zuerst
das übliche Bild: schwarz gekleidete hinter rhetorisch knalligen Bannern.
Dann aber reihen sich auch Alternativbürger ein, protestieren mit "für
Freiräume". Und auf dem Fronttransparent wird nicht für die
Autonomen-Hochburg Köpi, sondern für den Erhalt der Kulturkneipe
Schokoladen geworben. Später am Abend will auch die "antikapitalistische
Walpurgisnacht" am Friedrichshainer Wismarplatz "unseren Kiez zurück". Und
das Myfest am Sonntag feiert "gegen Verdrängung".
Längst begleitet ein sonores Grundgrummeln die Aufwertung vieler Kieze,
gerade in einstigen Abstiegsecken in Kreuzberg und Neukölln. Mit der
Räumung des Hausprojekts Liebig 14 Anfang Februar traf dieser Prozess auch
die linke Szene selbst. Deren Protestreaktion war lauter, auch
gewalttätiger als erwartet. Jetzt erreicht das Thema auch den 1. Mai. Dass
der Senat einen Wohnraummangel in der Innenstadt stetig bestreitet, wirkt
zusätzlich mobilisierend.
Es ist ein Anfang. Und ob daraus, etwa im Verlauf des Wahlkampfs, mehr
wird, muss sich erst noch zeigen. Denn von den milieuübergreifenden
Freiraumkämpfen wie etwa gegen die Mediaspree-Bebauung ist die
Mobilisierung noch weit entfernt. Der Durchschnittsmieter, Migranten - sie
fehlten an diesem 1. Mai größtenteils.
Am Ende aber verstärkt dieses Wochenende einen Eindruck aus den letzten
Monaten: Das Potenzial, dass sich stadtpolitisch etwas von unten
entwickelt, ist da. Und die nächsten Proteste sind angekündigt:
Kundgebungen zur Veröffentlichung des Mietspiegels Mitte Mai und eine
Großdemonstration wenige Tage vor der Wahl.
2 May 2011
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin
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