# taz.de -- Bewegungsforscher Dieter Rucht zum 1. Mai: "Wieder Bodenhaftung erl… | |
> Mit dem Thema der Gentrifizierung erlebt der 1. Mai einen Versuch der | |
> Repolitisierung, sagt Protestforscher Dieter Rucht. Eine größere Bewegung | |
> werde daraus vorläufig aber nicht entstehen | |
Bild: Die revolutionäre 1. Mai-Demonstration am Sonntagabend in Berlin | |
taz: Herr Rucht, der 1. Mai war diesmal von stadtpolitischen Forderungen | |
begleitet. Ist das die erhoffte Repolitisierung? | |
Dieter Rucht: Es ist zumindest der Versuch einer Repolitisierung. Eine | |
Wendung, die auch als Schwäche der vergangenen Jahre gewertet werden muss. | |
Offenbar versucht die linksradikale Szene nun aus ihrer relativen Isolation | |
herauszukommen und wieder ein Stück Bodenhaftung zu erlangen, indem sie | |
auch Kiezbewohner anspricht. | |
Warum wurde dafür das Thema Gentrifizierung gewählt? | |
Weil die abstrakten Phrasen von Klassenkampf und Generalstreik im Grunde | |
seit Jahren ins Leere laufen und nur noch Achselzucken hervorrufen. Deshalb | |
ist es konsequent, wenn man sich denn schon als linksradikal und | |
revolutionär versteht, Themen zu wählen, bei denen man zumindest potenziell | |
Anklang in der Bevölkerung finden kann. | |
Gentrifizierung als Mobilisierungskniff oder ehrliches Anliegen? | |
Es ist, glaube ich, beides. Sicher ist es ein legitimes Anliegen - gerade | |
für die, denen es finanziell nicht gut geht -, billige Mieten zu haben und | |
sich gegen Vertreibung zu wehren. Gleichzeitig versucht die Szene das Thema | |
zu nutzen, um wieder bei breiteren Kreisen anschlussfähig zu werden. Das | |
ist ja Anfang der 80er schon einmal mit der Hausbesetzerbewegung gelungen, | |
die auf Sympathien bis in die bürgerliche Mitte gestoßen ist. | |
Gibt es denn einen gesellschaftlichen Resonanzboden für die | |
stadtpolitischen Forderungen? | |
Es gibt in der Tat wieder mehr öffentliches Interesse für stadtpolitische | |
Themen, nicht nur in Berlin, sondern auch in Hamburg und in kleineren | |
Städten. Aber das Schlagwort Gentrifizierung bleibt erst mal eine abstrakte | |
Formel. Da werden - analytisch vielleicht zu Recht - Dinge | |
zusammengebunden, die aber von der Betroffenheit sehr, sehr weit | |
auseinanderliegen. Sogenannte Aufwertungsprozesse betreffen | |
unterschiedliche Projekte und Personengruppe zu unterschiedlichen Zeiten. | |
Daraus einen gemeinsamen Nenner zu konstruieren, muss noch nicht für eine | |
gemeinsame politische Aktion taugen. | |
Also wird es künftig keine breitere Bewegung geben? | |
Eine Klientel dafür gäbe es: das Lager der liberalen und linksalternativ | |
angehauchten Leute. Aber ob man diese Zielgruppe erreicht, wird sich nicht | |
an einem Tag entscheiden. Derzeit sehe ich keine übergreifende | |
Politisierung. Die linke Szene arbeitet sich an einzelnen Projekten wie | |
besetzten Häusern oder Mediaspree ab. Da ist es schwer, allgemeine | |
Betroffenheit zu erwirken, weil viele keine Verbindungslinien zwischen den | |
Projekten ziehen. Stattdessen überwiegt die Wahrnehmung, dass Berlin bei | |
Mieten und Leerstand im Vergleich zu anderen Städten ganz gut dasteht. | |
Dieser 1. Mai war friedlich wie lange nicht. Auch das ein Indiz für ein | |
politisches Revival? | |
Wenn ich die letzten 10 oder 15 Jahre betrachte, fällt dieser 1. Mai nicht | |
aus dem Rahmen. Das war business as usual. Dass es letztes und dieses Jahr | |
verhältnismäßig friedlich war, deutet noch auf keinen Trend hin. Ab 2003 | |
war es ja schon einmal ziemlich friedlich und dann wurde es 2009 wieder | |
überraschend heftig. | |
Warum lässt sich das Steinewerfen nicht totkriegen? | |
Weil es einen relativ kleinen Teil der Demonstrierenden gibt, der es | |
partout darauf anlegt. Das ist ein Gemisch aus politischen Motiven sowie | |
Männlichkeitsriten und Reputationsgewinn innerhalb der eigenen Peergroup. | |
Da wollen sich junge Männer durch Mut und Tat beweisen. | |
INTERVIEW: | |
2 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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