# taz.de -- Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg: "Die CDU muss ihr Dogma … | |
> Das baden-württembergische Handwerk stellt sich klar hinter die grün-rote | |
> Schulreform im Ländle. "Das ist auch unser Projekt", sagt Präsident | |
> Joachim Möhrle. | |
Bild: Nicht nur Grundschüler sollen gemeinsam lernen. | |
taz: Herr Möhrle, freuen Sie sich jetzt, dass die neue grüne-rote | |
Landesregierung in den Schulen längeres gemeinsames Lernen möglich machen | |
will? Oder ärgern Sie sich? | |
Joachim Möhrle: Ich finde es gut, weil wir das Prinzip der neuen | |
Gemeinschaftsschule schon seit Langem propagieren. Wir wollen, dass die | |
Schüler länger zusammenbleiben und so Restschulen vermieden werden. In | |
erster Linie aber müssen wir unsere Lernkultur ändern! Das Lernkonzept der | |
"Belehrung" darf nicht länger im Mittelpunkt stehen. | |
Ihr Handwerkstag hat schon vor neun Jahren die Belehrung als | |
"Unterrichtsprinzip des auslaufenden Industriezeitalters" kritisiert. Hat | |
ganz schön lange gedauert, bis die Politik den Ball aufgenommen hat, oder? | |
In der alten Landesregierung war die dreigliedrige Schule halt ein Dogma. | |
Da hatten wir keine Chance mit unseren Vorstellungen von einer Basisschule, | |
die bis zur neunten oder zehnten Klasse alle Schüler zusammen unterrichtet | |
und sich dann in einen beruflichen und einen allgemeinbildenden Zweig mit | |
Abiturmöglichkeit aufspaltet. Die Landes-CDU hat sich zusammen mit Bayern | |
als die letzte Bastion der gegliederten Schule gesehen. | |
Was raten Sie der Union? | |
Zunächst haben ja die Kommunen und die Eltern das Wort. Denn über die | |
Einrichtung einer Gemeinschaftsschule wird vor Ort entschieden. Das finden | |
wir richtig. Sollten die Eltern sich jetzt in der Breite für die | |
Gemeinschaftsschule entscheiden, dann sollte die Union nicht zögern. Die | |
CDU ist gut beraten, sich endlich von ihrem selbst auferlegten Dogma der | |
gegliederten Schule zu befreien. Wir brauchen dringend eine | |
Entideologisierung der Debatte. Es muss darum gehen, jeden einzelnen | |
Schüler individuell zu fördern - und das kann die Gemeinschaftsschule. | |
Was halten Sie von einem Schulfrieden wie in Bremen, bei dem alle Parteien | |
mit ins Boot geholt werden? | |
Ich fände einen Schulfrieden sehr wichtig. Es dauert lange, um ein | |
Schulsystem weiter zu entwickeln, mindestens eine Legislaturperiode wird | |
ins Land gehen. Aber man weiß ja nie, was mit einer Regierung passiert. Wir | |
haben schon vor Langem geschrieben, dass wir bei der Schule "nicht mit | |
Reparaturmaßnahmen auf der Grundlage traditioneller Gestaltungsmuster" | |
weiterkommen. Grundlegende Neuorientierungen wie die Gemeinschaftsschule | |
aber brauchen Zeit. Deswegen wäre ein gemeinsamer Weg aller Parteien zur | |
Gemeinschaftsschule ein gutes Zeichen. | |
Herr Möhrle, was stört Handwerker, also einen Schreiner oder einen | |
Autohändler wie Sie, eigentlich an der gegliederten Schule. | |
Wir haben insgesamt 56.000 Lehrlinge im Handwerk, zwei Drittel davon kommen | |
bei uns mit dem Hauptschulabschluss an. Wir bemerken aber seit vielen | |
Jahren, dass die Ausbildungsreife, wie wir das nennen, immer schlechter | |
wird. 20 Prozent der Schulabsolventen sind unseres Erachtens nicht in der | |
Lage, eine Ausbildung aufzunehmen. Unsere Handwerksmeister übernehmen | |
teilweise die Funktion von Nachhilfelehrern. | |
Aber darüber klagen Sie doch schon, seit es den Handwerkstag gibt. | |
Das stimmt, aber es hat sich noch einmal deutlich verschärft, und wir | |
glauben, dass das eng mit dem Ausbluten der Hauptschulen zusammenhängt. Die | |
Lernatmosphäre und das Anspruchsniveau leidet in Restschulen erheblich. Die | |
Gemeinschaftsschule kann das verhindern, weil sie eine leistungsstarke | |
Schule mit individueller Förderung verbindet - wenn die Eltern und die | |
Kommunen diese Schule wollen. | |
Was meinen Sie damit? | |
Die Idee, die Schulstandorte nicht von oben nach unten umzukrempeln, halten | |
wir für richtig. Das heißt aber auch: Jetzt haben es die Eltern und die | |
Schulträger in der Hand, das Bildungssystem zu reformieren. Der Wandel | |
kommt von unten. | |
Wieso gefällt Ihnen das so? | |
Ein so grundlegender Paradigmenwechsel im Lernen lässt sich meines | |
Erachtens nicht von oben verordnen. Die Lehrer werden es gar nicht leicht | |
haben, weil sie keine reinen Wissensvermittler mehr sind, sondern sie | |
begleiten die Schüler bei ihren viel eigenständigeren Lernprozessen. Sicher | |
müssen auch die Lehrpläne anders aussehen in Zukunft. Kurz: In der Schule | |
wird sich vieles verändern. Wir wünschen uns ein ganzheitliches | |
Lernkonzept, das Hand und Kopf verbindet. Wichtiger als Noten sind uns die | |
Entwicklung der Persönlichkeit. Wir wollen jedes Talent der Schüler | |
fördern. Dafür brauchen wir einen neuen Typ von Lehrern und Schulleitungen, | |
die viel mehr Verantwortung bekommen sollten als bisher. | |
Was wird der Handwerkstag tun, damit das Konzept der Gemeinschaftsschule | |
ein Erfolg wird? | |
Wir bieten auch für die Gemeinschaftsschulen Betriebspraktika und eine | |
ausgeprägte Berufsorientierung an. Das heißt, wir werden über | |
Schulpartnerschaften helfen, dass künftige Lehrlinge über die Berufe sehr | |
gut informiert sind. Uns ist aber auch wichtig, dass jetzt die anderen | |
Schulformen nicht benachteiligt werden. | |
Werden Sie die weithin unbekannte Gemeinschaftsschule denn auch öffentlich | |
unterstützen? | |
Die Gemeinschaftsschule ist auch unser Projekt. Wir werden dafür öffentlich | |
einstehen. Bis jetzt wissen ja viele Menschen in Baden-Württemberg noch gar | |
nicht, was eine Gemeinschaftsschule überhaupt ist. | |
Sie haben im Juli 2002 in Ihrem berühmten Pisa-Papier geschrieben, "Ziel | |
sollte es sein, dass Baden-Württemberg in zehn Jahren im internationalen | |
Vergleich eine Spitzenposition einnimmt". Wie lange hat der | |
Exportweltmeister Baden-Württemberg denn überhaupt noch noch Zeit, um | |
darauf zu warten? | |
Das ist keine leichte Frage. Wir stehen im nationalen Vergleich ja ganz gut | |
da. Aber die Zahl der Risikoschüler ist eindeutig zu hoch für ein | |
wirtschaftsorientiertes Land wie Baden-Württemberg, das ist unser Problem. | |
Ich kann Ihnen jetzt auch nicht sagen, wie lange die Reform dauern wird. | |
Für uns ist wichtig, dass es jetzt endlich losgeht. | |
4 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
## TAGS | |
Bremen | |
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