# taz.de -- Debatte Gemeinschaftsschule: Pädagogik für das 21. Jahrhundert | |
> In NRW wurde sie vorerst gestoppt, in BaWü darf sie nun kommen. Doch die | |
> Gemeinschaftsschule wird von CDU-Dinosauriern torpediert - und | |
> Erfahrungswerte fehlen. | |
Bild: Sollen jetzt bis zur 10. Klasse zusammen lernen können: Schulkinder in B… | |
Die neue Stuttgarter Regierung hat Bildung als ihr Kernstück | |
herausgestellt: In Baden-Württemberg soll eine andere Schule entstehen. | |
Grün-Rot will sogenannte Gemeinschaftsschulen möglich machen, das sind | |
Schulen, in denen alle Kinder bis zur zehnten Klasse zusammen lernen | |
können. Und in denen auch anders gelernt wird: individuell nämlich. Die | |
neuen Regierer machen zugleich deutlich, dass die neuen Schulen kein | |
Top-down-Projekt sind: Gemeinschaftsschulen werden nur da entstehen, wo die | |
Gemeinden und Schulträger das wollen. | |
Das ist ein klares Bekenntnis von Grün-Rot, die tiefe deutsche Schul- und | |
Demografiekrise endlich ernst zu nehmen. Aber eine Bildungsrevolution ist | |
es noch nicht. | |
Dennoch spuckten die Agenturen sogleich Meldungen wie diese aus: "Die | |
Einführung der Einheitsschule ist ein Angriff auf das Gymnasium und sie | |
verwässert anerkannte Bildungsabschlüsse." So kommentierte der bayerische | |
Kultusminister Ludwig Spaenle die grün-rote Schulevolution. | |
## Die Ständeschule der Spaenles | |
Spaenle ist Sprecher der unionsgeführten Länder. Er gehört zu den | |
Dinosauriern unter den Kultusministern: relativ sehr kleiner Kopf im | |
Verhältnis zum ohrenbetäubenden Lärm, den sie ständig erzeugen. Sie sind | |
konzeptionell stehen geblieben bei der dreigliedrigen Ständeschule, die man | |
schwer in das 21. Jahrhundert hineinargumentieren kann. Man fragt sich | |
immer, was Regierungschefs der Union motiviert, Figuren wie Spaenle, oder | |
den Ex-Offizier Bernd Althusmann (Niedersachsen) in ihrem Kabinett für die | |
Wissensgesellschaft zuständig zu erklären. Allein die Benutzung des | |
Terminus "Einheitsschule"zeigt, wo diese Leute stehen: Es ist ein | |
Kampfbegriff aus den 1860er Jahren, als die Lobby des humanistischen | |
Gymnasiums gegen die Ausweitung der Abiturquote auf mehr als ein Prozent | |
polemisierte. Noch Fragen? | |
Baden-Württemberg wird also das erste der wichtigen fünf großen | |
Bundesländer - NRW, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen - | |
sein, das die Gemeinschaftsschule im Gesetz verankert. Bislang ist die | |
Gemeinschaftsschule ja nur in Schleswig-Holstein und Berlin zuhause, | |
manches andere kleine Land (und einige Schulträger) kokettieren mit ihr. | |
Aber drei Viertel der deutschen Schüler, die in den Großen Fünf zuhause | |
sind, wurden bislang in die alte gegliederte Schule gezwungen. Mit anderen | |
Worten: Jetzt beginnt die Schulreform erst. | |
## Zu Konsumenten degradiert | |
Die Vorteile der Gemeinschaftsschule für ein Land wie Baden-Württemberg | |
liegen auf der Hand. Sie vermag es, erstens, bei sinkenden Schülerzahlen | |
die Schulen auch in kleinen Gemeinden zu halten. Sie kann so das | |
dramatische Sterben hunderter Schulen verhindern. Dieses Sterben hat weit | |
reichende strukturpolitische Folgen: Geht die Schule, stirbt das Dorf. Die | |
Gemeinschaftsschule bedeutet für ein Land des Mittelstandes wie | |
Baden-Württemberg, dass es seinen Gemeinden - endlich! - ein | |
strukturpolitisches Pfund in die Hand gibt: Sie können wieder Ingenieure | |
für das technologieorientierte Handwerk vor Ort anwerben, weil sie nicht | |
nur eine weiterführende Schule bieten, sondern obendrein das Abitur. | |
Die Gemeinschaftsschule bringt, zweitens, einen pädagogischen | |
Paradigmenwechsel: Weg vom Konsumieren hin zum Agieren. Unterrichtet man | |
nämlich sehr verschiedene Schüler-Talente prinzipiell gemeinsam, dann muss | |
man das Lernen ganz anders arrangieren als in der alten Belehrungsanstalt. | |
Es fällt der eintönige und überkommene Fachunterricht in kleinen | |
Zeitfenstern weg, der meistens frontal abgehalten wurde. Er ist es, der | |
Schüler zu Konsumenten degradiert. An seine Stelle treten | |
individuell-kollektive Lernformen, in denen die Schüler zu Produzenten | |
werden: Sie bestimmen in Lernbüros ihr Tempo selbst, sie erarbeiten sich | |
Sinn und Gegenstände vieler Wissensgebiete eigenständig, sie forschen | |
idealerweise in großen fachübergreifenden Projekten zusammen mit anderen | |
Schülern. | |
Für manchen mag sich das wie hohler pädagogischer Neusprech anhören, in | |
Wahrheit steckt darin die Lern-Zukunft der postindustriellen | |
Informationsgesellschaft. Weil die Schüler sich in eigenaktiven | |
Lernformaten neue Aufgaben selbständig suchen, sie lösen wollen und dabei | |
kooperieren und präsentieren müssen, machen sie das, was der | |
US-amerikanische Autor Tony Wagner 21st-Century-Skills nennt: | |
Problemlösungskompetenz, die Fähigkeit zur Kooperation, unternehmerisches | |
Denken, Kreativität. Das sind Kompetenzen, die der Harvard-Professor nicht | |
etwa aus der Arbeit von Schulen extrahiert hat, sondern in Interviews mit | |
Personalmanagern der Industrie identifizierte. An wenigen Orten in | |
Deutschland werden sie so schmerzlich vermisst wie im Boomland | |
Baden-Württemberg. | |
## Metzger und Analphabeten | |
Nicht ganz zufällig stehen alle diese Kompetenzen ja auch im modernsten | |
deutschen Post-Pisa-Papier. Verabschiedet hat es der Baden-Württembergische | |
Handwerkskammertag, der wahrlich kein Hort hektischer gesellschaftlicher | |
Modernisierung ist. Dass der konservativste Wirtschaftsverband es getan | |
hat, ist Ausdruck der Lage der Nation am Standort in Baden-Württemberg: Die | |
Metzger, Schreiner und Mittelständler bekommen nämlich dort, wo die Global | |
Player Porsche, Bosch, Daimler etc. die besten Absolventen aus den Schulen | |
staubsaugen, nur mehr Schulabbrecher, Risikoschüler und funktionale | |
Analphabeten als Lehrlinge. Die scheidende Smartphone-Kultusministerin | |
Marion Schick hatte dieses Problem noch geleugnet: Sie machte eine Politik | |
mit, die auf bloße Umbenennung der Hauptschulen in Werk-Realschulen setzte. | |
Diese Missgeburt hat mit zur Abwahl der Regierung beigetragen. | |
Die Gemeinschaftsschule ist das richtige Angebot. Aber sie wird kein | |
Selbstläufer werden. Das Problem ist, dass sie noch kaum jemand kennt und | |
dass viele Lehrer sie noch nicht können. Die Zurückweisung dieser Schulform | |
lag ja nicht allein an der Sturheit modernisierungsresistenter Minister. | |
Das alte Lernen à la Feuerzangenbowle steckt noch tief in den Köpfen. Es | |
gut, dass das technologisch am weitesten entwickelte deutsche Land dies nun | |
ändern will. | |
6 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
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