# taz.de -- Kolumne Mail aus Syrien: Orgasmus in Damaskus | |
> Assad lässt die Demokratiebewegung weiter brutal niederschlagen. Wenn die | |
> Bürger dürfen, treffen sie sich beim Tee und diskutieren oder rezitieren | |
> Dichter. | |
Bild: Damaskus: von Bomben zerstörte Gebäude. | |
In Damaskus treffen sich jeden Montag am späten Abend Menschen, die | |
Literatur lieben, um bekannte arabische als auch internationale Poeten zu | |
rezitieren. In einer Bar am Rande der Altstadt entsteht unter dem Einfluss | |
von Wein oder Arak eine sehr emotionale Atmosphäre. Jeder hat eine Meinung | |
und steht, falls nötig, einfach auf und tut sie laut kund. Man diskutiert | |
über Politik, Liebe, Sex. Poeten wie Mahmud Darwisch, Khalil Gibran oder | |
William Shakespeare kommen so zu Wort, aber auch eigene Schriften werden | |
rezitiert. Eine Frau Mitte fünfzig beschwört den Mut der Frauen, sich mehr | |
in die Gesellschaft einzumischen, so wie früher. | |
Ein US-amerikanischer Arabistik-Doktorand redet über den Einfluss der USA | |
im Irak und bezeichnet es als das "vertane Babylon". Eine zwanzigjährige | |
Syrerin, die sich wie Marilyn Monroe gestylt hat, singt über den Orgasmus, | |
und ein irakischer Flüchtling sagt immer wieder: "Wo sind wir wegen der | |
Religion bloß hingekommen. Religion ist Opium, Religion entmachtet das | |
Individuum." Es ist eine einzigartige Aufbruchstimmung, die in der Luft | |
solcher Abende liegt und die man auf den Bait al-Kassid genannten Abenden | |
im Haus der Poeten besonders spürt. | |
Der Treffpunkt existiert seit einigen Jahren und wurde bisher von der | |
Regierung geduldet. Der Veranstalter heißt Luqman Derky und ist ein | |
exzentrischer Kurde mit schulterlangen grauen Haaren. Hier kommen Aleviten, | |
Christen, Sunniten, Schiiten, Drusen und Juden zusammen. Manchmal steht | |
Derky selbst am Rednerpult und flucht einfach nur um des Fluchens willen - | |
und das lieben seine Zuschauer. In der syrischen Gesellschaft dominieren | |
viele Normen und Regeln den Alltag. | |
Im Gespräch sagt ein junger Literat, eine Entwicklung wie in Ägypten könne | |
in Syrien nur dann entstehen, wenn die Menschen selbstbewusst genug wären, | |
um an die Macht des Individuums zu glauben. | |
Baschar al-Assad hat im Jahr 2000 die Macht von seinem Vater geerbt und | |
seither den Eindruck erweckt, das System könne sich öffnen und reformieren. | |
Noch im März hielt die First Lady Asma al-Assad eine Rede, die Hoffnungen | |
weckte. Doch nur zwei Monate nach dieser Rede hat das Regime 900 | |
Demonstranten umbringen lassen, tausende sind im Gefängnis verschwunden | |
oder werden an geheimen Orten gefoltert. | |
## Hass auf den Geheimdienst | |
Es ist auch heute in Damaskus schwer, an Informationen zu kommen, die | |
internationale Presse musste das Land längst verlassen. Die Situation ist | |
komplex: Viele Syrer unterstützen das Regime immer noch, auch aus Furcht | |
vor dem, was nach Assad kommen könnte. Doch den Muchabarat, den | |
Geheimdienst, hassen sie. Und viele glauben, dass Baschar al-Assad die | |
Macht längst an andere, die Hardliner im Familienclan, verloren hat. Hinzu | |
kommt, dass anders als in Ägypten die Demonstranten kein klares | |
einheitliches Ziel formulieren. | |
Mittlerweile ist auch dass Bait al-Kassid geschlossen. Seit die | |
Demonstrationen die Vorstädte von Damaskus erreicht haben, ist Luqman Derky | |
besorgt, er könne in Verbindung mit den Demonstranten gebracht werden und | |
jemand könnte öffentlich etwas Unbedachtes äußern. So funktioniert | |
Einschüchterung. Die Proteste auf der Straße gehen dennoch an vielen Orten | |
weiter. Schwer zu glauben, dass das, was zuletzt geschah, ohne Konsequenzen | |
für das Regime bleiben wird. | |
24 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Paula Shahr | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrien | |
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