# taz.de -- Spanische Menschentürme: Kataloniens Hochstapler | |
> Jenseits von Stierkampf und Flamenco: Castells sind lebendiges | |
> Unesco-Weltkulturerbe in der nordspanischen Region. | |
Bild: Beim Aufbau eines Castells im spanischen Penedes. | |
Es beginnt mit einem Zittern in Joán Ferrats Knie: Im dritten seiner | |
bislang insgesamt sechs Stockwerke beginnt der Turm aus | |
übereinandergestapelten Menschen zu wackeln. Lluís, der Mann aus der | |
zweiten Turmebene, auf dessen Schultern Joán Ferrat steht, packt mit aller | |
Kraft dessen kräftige Waden und versucht den kunstvollen Aufbau zu | |
stabilisieren. | |
.Sein Gesicht läuft vor Anstrengung rot an. Lluís und seine drei | |
Etagenkollegen tragen eine nun unkontrolliert schwankende Last von mehr als | |
300 Kilo auf ihren Schultern, während immer weitere Menschen an ihren | |
Rücken und den Rückseiten ihrer Beine entlang in Richtung Turmspitze | |
klettern. | |
Inzwischen hat die traditionelle Schnabelflötenmusik, die den Aufbau eines | |
Castells begleitet, ausgesetzt. Für einen Moment ist es totenstill auf dem | |
überfüllten Marktplatz des Dörfleins Bisbal de Penedès. Alle Augen richten | |
sich auf Lluís, Joán und die anderen Castellers, wie die Mitglieder einer | |
Turmbaumannschaft auf Katalanisch genannt werden. Einige von ihnen haben | |
vor Anstrengung die Augen fest zusammengekniffen. Halten, halten, halten! | |
ist das Einzige, was nun zählt. So lange, bis das „Enxaneta“ genannte Kind | |
auf die Spitze geklettert ist und den Arm als Signal für den erfolgreichen | |
Aufbau des Turms in die Höhe streckt. Zu einem gelungenen Castell zählt | |
allerdings auch der erfolgreiche Abbau. | |
Doch das Zittern setzt sich unaufhaltsam fort. Noch während die fünfjährige | |
Naiara sich Menschenetage für Menschenetage nach oben arbeitet, sackt der | |
Turm in sich zusammen wie ein Kartenhaus. „Fer Llenya“ heißt dieser | |
Einsturz in der Terminologie der Castellers, was in etwa „Kleinholz machen“ | |
bedeutet. | |
Wer diesem Schauspiel noch nie beigewohnt hat, dem bleibt jetzt nahezu das | |
Herz stehen. Einige der durcheinanderpurzelnden Leiber fallen immerhin aus | |
der Höhe eines mehrstöckigen Hauses. Doch die Menge, die sich von Baustart | |
an mit erhobenen Händen dicht an die „Colla“ genannte Castellmannschaft | |
gedrängt hat, fängt die Stürzenden zuverlässig auf und führt sie | |
kontrolliert zu Boden. | |
Die Enttäuschung ist groß, schließlich sollte die besonders schwierige | |
Formation der Mannschaft der „Castellers de Vilafranca“ den Triumph im | |
freundschaftlichen Wettstreit mit zwei anderen Gruppen bringen und den | |
Höhepunkt des Patronatsfestes in Bisbal de Penedès darstellen. | |
Über 60 „Colles Castelleres“ mit insgesamt rund 16.000 Mitgliedern gibt es | |
in Katalonien. Besonders aktiv sind sie in der Provinz Tarragona, wo die | |
Castells ein fester Bestandteil der Patronatsfeste, auf Katalanisch „festes | |
majores“, sowie religiöser Feierlichkeiten sind. Alle zwei Jahre finden | |
sich zudem im Oktober die besten „Colles“ in Tarragona zu einer | |
inoffiziellen Olympiade zusammen. Die „Castellers de Vilafranca“ haben in | |
diesem Jahr bereits zum fünften Mal in Folge den Sieg davongetragen. | |
Dass die derzeit erfolgreichste „Colla“ ausgerechnet aus Vilafranca kommt, | |
kann kaum verwundern, lässt sich die Tradition in der Hauptstadt des | |
Kreises Alt Penedès doch über 200 Jahre zurückverfolgen. Damals bildeten | |
drei Mann hohe Menschensäulen den Höhepunkt christlicher Prozessionen. Auch | |
in der Provinz Valencia, die über Jahrhunderte zu Katalonien gehörte, waren | |
Menschentürme Bestandteil traditioneller, „Muixeranga“ genannter Tänze des | |
17. und 18. Jahrhunderts. Als Wiege der Castells in ihrer modernen, | |
sportlichen Form gilt aber die Stadt Valls nahe Tarragona, wo Ende des 18. | |
Jahrhunderts sogar von Straßenkämpfen zwischen den Anhängern | |
rivalisierender „Colles“ berichtet wurde. | |
„Ich finde es sehr wichtig, dass die Welt erfährt, dass wir Katalanen | |
unsere eigene Kultur haben, die mit Stierkampf und Flamenco nichts zu tun | |
hat“, sagt David Miret i Rovira, Leiter der 400 Mitglieder starken | |
„Castellers de Vilafranca“. Viele Katalanen wünschen sich auch nach dem | |
Ende der Franco-Diktatur die Unabhängigkeit von Spanien. Die Wiederbelebung | |
der Traditionen wie dem Castellbau, der unter Franco teilweise verboten | |
war, und der Gebrauch der katalanischen Sprache sind Ausdruck einer | |
erstarkenden nationalen Identität in der nordspanischen Region zwischen | |
Pyrenäen und Ebrodelta. | |
„Der Castellbau ist ein Symbol der Solidarität“, ist Miret i Rovira | |
überzeugt. „Jeder trägt gleich viel Verantwortung für den | |
gemeinschaftlichen Erfolg.“ Vor allem in kleineren Dörfern stärkt dies den | |
Zusammenhalt der Bewohner. In Vilafranca träumt jedes Kind davon, einmal | |
von der Spitze des Turms die jubelnde Menge grüßen zu dürfen. Doch dazu | |
muss man nicht nur Geschicklichkeit, sondern auch Disziplin und | |
Bereitschaft zu intensivem Training mitbringen. | |
Pol Escudero Laporta, Vater von Enxaneta Naiara und selbst Casteller, ist | |
stolz darauf, dass seine Tochter die Tradition weiterträgt. Zwar sei ein | |
Verletzungsrisiko durchaus vorhanden, räumt er ein, aber auf der Straße zu | |
spielen sei gefährlicher. Tatsächlich kam es in der über 200-jährigen | |
Geschichte der Castells nur zu drei Todesfällen durch Abstürze: Erstmals im | |
19. Jahrhundert, dann erst wieder im Jahr 1983 und zuletzt im Juli 2006. | |
Die heute geltende Helmpflicht für die Kinder und Jugendlichen, die die | |
Spitze der Türme bilden, war bereits beschlossen, aber noch nicht | |
umgesetzt. | |
27 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Annika Müller | |
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