# taz.de -- Militäreinsatz in Syrien: Armee nimmt Protesthochburg ein | |
> Präsident Assad kämpft gegen das eigene Volk: Syrische Truppen haben die | |
> Protesthochburg Dschisrasch Schugur eingenommen. Tausende Syrer fliehen | |
> in die Türkei. | |
Bild: Massive Gewalt: Die syrische Armee rückte in Dschisr al Schughur ein. | |
Damsakus dpa/dapd/rtr | Blutige Eskalation in Syrien: Nach tagelanger | |
Belagerung sind syrische Truppen am Sonntag in die nordwestliche Kleinstadt | |
Dschisr al-Schogur einmarschiert. Rund 200 Panzer seien an der Operation | |
beteiligt, berichteten syrische Oppositionelle. Hubschrauber kreisten über | |
dem Ort. Die Streitkräfte, die von Süden und Osten vorrückten, nahmen die | |
Kleinstadt mit Artillerie unter Beschuss. Es war der bisher massivste | |
Militäreinsatz des Assad-Regimes gegen das eigene Volk. Das brutale | |
Vorgehen löste international Bestürzung aus. Bundesaußenminister Guido | |
Westerwelle warnte, es drohe eine humanitäre Krise. | |
Nach ersten Berichten staatlicher syrischer Medien wurden bei den "schweren | |
Zusammenstößen" zwei Angehörige "bewaffneter Gruppen" getötet und | |
zahlreiche weitere festgenommen. Auch ein Soldat der Regierungstruppen kam | |
dabei ums Leben, vier weitere wurden verletzt. | |
Nach Angaben der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur Sana fanden die | |
einrückenden Truppen beim Sitz der örtlichen Geheimpolizei ein | |
"Massengrab". Aus diesem seien zehn verstümmelte Leichen geborgen worden, | |
die sterblichen Überreste von Polizisten und Soldaten, die angeblich von | |
"terroristischen Gruppen" getötet wurden. | |
## Vorwürfe gegen Aufständische | |
Der massive Angriff auf Dschisr al-Schogur war bereits im Vorfeld mit | |
Anschuldigungen der staatlichen Medien begründet worden, "bewaffnete | |
Banden" hätten dort am vergangenen Wochenende 120 Angehörige der | |
Sicherheitskräfte umgebracht. Bewohner aus dem Ort berichteten wiederum, | |
unter Angehörigen von Militär und Geheimdiensten sei es zu einer heftigen | |
Schießerei gekommen, weil einige von ihnen die brutale Vorgehensweise gegen | |
unbewaffnete Demonstranten nicht mehr weiter billigen wollten. Überprüfen | |
lässt sich keine der Darstellungen, weil die Regierung Journalisten im Land | |
nicht unabhängig arbeiten lässt. | |
Es ist die bislang schwerste Eskalation, seit im März Hunderttausende Syrer | |
friedlich für politische Reformen zu demonstrieren begannen. Am Sonntag gab | |
es zahlreiche Solidaritätskundgebungen in anderen Städten. Von Aktivisten | |
ins Internet gestellte Videos zeigten eine Demonstration in Aleppo, der | |
zweitgrößten Stadt des Landes. Dort verlangten die Teilnehmer das | |
unverzügliche Ende des Militäreinsatzes in Dschisr al-Schogur. | |
Seit fast drei Monaten lässt das Regime von Präsident Baschar al-Assad die | |
Kundgebungen immer wieder blutig niederschlagen. Nach Angaben syrischer | |
Menschenrechtler starben bislang rund 1300 Menschen. | |
Experten schließen aber dennoch nicht aus, dass die Revolte in der | |
nordwestlichen Provinz Idlib zunehmend auch einen bewaffneten Charakter | |
annimmt. Desertierende Soldaten könnten demnach Schutz bei Bewohnern | |
gesucht und sich mit diesen verbrüdert haben. Staatliche Medien berichteten | |
von Sprengfallen und Minen, die die Truppen beim Eindringen in den Ort | |
entfernen mussten. Rund 5000 Bewohner waren schon zuvor über die nahe | |
Grenze in die Türkei geflohen. | |
Am Sonntag kamen weitere Menschen über die Grenze, wie die türkische | |
Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Sie werden in Zeltstädten des | |
Türkischen Roten Halbmondes untergebracht. Die türkische Regierung hat | |
mehrfach versichert, dass sie die Grenze zu Syrien nicht schließen wird. | |
## USA fordern Zugang zu humanitärer Hilfe | |
Die USA haben Syrien vorgeworfen, die eigene Bevölkerung in eine humanitäre | |
Krise zu stürzen. Die Regierung von Präsident Bassar al-Assad müsse ihr | |
gewaltsames Vorgehen gegen Demonstranten umgehend beenden und dem | |
Internationalen Komitee des Roten Kreuzes sofort uneingeschränkten Zugang | |
zu Flüchtlingen, Gefangenen sowie Verletzten gewähren, teilte ein Sprecher | |
von US-Präsident Barack Obama mit. "Die syrische Führung hat kein Recht, | |
humanitäre Hilfe durch eine unabhängige Organisation wie das IKRK zu | |
verweigern." | |
Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich in einer Erklärung tief | |
besorgt über die Gewalt in Syrien. Ein UN-Sprecher fügte hinzu, Ban habe in | |
den vergangenen Tagen mehrfach versucht, Assad am Telefon zu sprechen. Es | |
habe aber geheißen, der syrische Präsident stehe nicht zur Verfügung. | |
Außenminister Westerwelle erklärte: "Ich verurteile das Vorgehen der | |
syrischen Führung im Norden des Landes. Durch die Gewalt und den Einsatz | |
schwerer Waffen droht eine humanitäre Krise." Die gefährliche Situation | |
mache eine klare Reaktion des UN-Sicherheitsrates um so dringlicher. | |
"Unsere politischen und diplomatischen Anstrengungen bleiben darauf | |
gerichtet, dass die von uns mit eingebrachte Resolution so schnell wie | |
möglich verabschiedet wird", hieß es in der vom Auswärtigen Amt | |
verbreiteten Mitteilung. | |
Im UN-Sicherheitsrat erhielten die Bemühungen von Deutschland, Frankreich, | |
Großbritannien und Portugal für eine Syrien-Resolution unterdessen einen | |
Dämpfer: China und Russland blieben einem Treffen zur Abstimmung über einen | |
Resolutionsentwurf demonstrativ fern. | |
## Abstimmung im UN-Sicherheitsrat nächste Woche | |
In dem Entwurf wird das Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte gegen | |
Demonstranten verurteilt und ein sofortiges Ende der Gewalt gefordert. | |
Dabei ist auch die Rede von mutmaßlichen Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit. Nach Einschätzung von Diplomaten dürfte der Entwurf nächste | |
Woche zur Abstimmung gebracht werden. China und Russland könnte die | |
Resolution mit einem Veto verhindern. | |
Ägypten erklärte unterdessen, es wolle einen von der Europäischen Union | |
angestrebten Beschluss des Weltsicherheitsrates gegen das syrische Regime | |
abwenden. Kairo arbeite "hinter den Kulissen" daran, um stattdessen in | |
Damaskus zu erwirken, dass es einem Besuch eines "westlichen" | |
Sondergesandten zustimmt, sagte der ägyptische Außenminister Nabil al-Arabi | |
der arabischen Tageszeitung Al-Hayat. Indes hält die Führung in Syrien die | |
Bürger des arabischen Landes für politisch unmündig. Die regierungsamtliche | |
Zeitung Al-Thawra schrieb am Montag, das auf Geheiß von Präsident Baschar | |
al-Assad kürzlich gegründete Komitee zur Ausarbeitung eines neuen | |
Parteiengesetzes habe festgestellt, dass es den Syrern insgesamt an | |
"politischer Kultur" mangele. | |
Welche Schlüsse das Komitee aus dieser Feststellung ziehen will, blieb | |
unklar. Seit Beginn der Proteste im März sind nach Angaben von | |
Menschenrechtsgruppen 1100 Demonstranten getötet worden. Angesichts der | |
Gewalt versuchen immer mehr Syrer, ins Ausland zu fliehen. Nach Angaben von | |
Menschenrechtsaktivisten haben in den vergangenen Tagen bis zu 10.000 | |
Flüchtlinge Zuflucht im Grenzgebiet zur Türkei gesucht. Mehr als 4000 | |
Menschen sollen laut Augenzeugen bereits die Grenze überquert haben. | |
13 Jun 2011 | |
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