# taz.de -- Unruhen in Syrien: Tausende fliehen in die Türkei | |
> Die umzingelte syrische Stadt Dschisr al Schughur ist mittlerweile fast | |
> vollständig verlassen. Selbst Soldaten der Armee von Staatschef Assad | |
> sollen geflohen sein. | |
Bild: Aus Angst vor Assads Rache geflohen: Syrische Flüchtlinge in der Türkei. | |
GUVECCI dapd | Mehr als 2.400 Syrer flohen am Donnerstag vor den Truppen | |
des syrischen Präsidenten Baschar Assad aus der umzingelten Stadt Dschisr | |
al Schughur in die Türkei. Nach einer Woche des Aufruhrs erzählen sie von | |
Polizisten, die ihre Waffen gegeneinander erhoben, Soldaten, die ihre | |
Uniform abstreiften, statt auf Demonstranten zu schießen, und drei | |
Jugendlichen, die fliehen wollten und geköpft wurden. | |
Viele der Flüchtlinge haben selbst in der Türkei noch so viel Angst, dass | |
sie nur ihren Vornamen nennen wollen. Ein junger Mann namens Rami sagte, | |
die syrischen Truppen hätten die Verstärkung nach einer Meuterei unter | |
Soldaten und Polizisten mobilisiert. "Alles begann mit der Tötung zweier | |
Demonstranten vor einer Woche", sagte Rami. Dann sei es auf dem | |
Polizeirevier Emin Askari zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten | |
gekommen, nachdem einige den Befehl des alawitischen Polizeichefs, auf | |
Demonstranten zu schießen, missachtet hatten. | |
Umstehende Syrer nickten bei der Erzählung und meldeten sich mit weiteren | |
Details zu Wort. Die größten Teile der syrischen Führungselite und auch | |
Präsident Assad stammen aus der Volksgruppe der Alawiten, die in Syrien | |
eine Minderheit bildet. | |
## Soldaten sollen Uniform ausgezogen haben und geflohen sein | |
Dann seien auch einige Soldaten desertiert. Auch sie hätten sich geweigert | |
auf Demonstranten zu schießen, hätten ihre Uniformen abgestreift, ihre | |
Waffen niedergelegt und sich mit ihren Familien auf die Flucht gemacht, | |
sagte der 22-Jährige, der an der Universität von Dschisr al Schughur | |
studierte, um Mathematiklehrer zu werden. | |
"Zwei Hubschrauber feuerten auch willkürlich auf Zivilisten und auf | |
Häuser", erzählte Rami. Das habe die Flucht ausgelöst. Zu vielen seiner | |
Freunde habe er den Kontakt verloren und er fürchte um ihr Leben, sagte er. | |
"Assads Truppen haben drei junge Männer aus Latakia geköpft, als sie gesagt | |
haben würden in die Türkei gehen. Wir begruben sie gestern in einem Dorf | |
hinter der Grenze." | |
Die Behauptung der Herrschaft in Dschisr al Schughur und der umliegenden | |
Idlib-Provinz ist für den Machterhalt von Präsident Assad wichtig. Nach | |
Regierungsangaben haben bewaffneten Banden dort in dieser Woche 120 | |
Angehörige der Sicherheitskräfte getötet. Seit Beginn der Unruhen seien 500 | |
Beamte ums Leben gekommen, sagte ein Regierungssprecher. Und die | |
Regierungstruppen würden nur schießen, wenn auf sie geschossen würde, sagte | |
er. | |
Laut Menschenrechtsgruppen sind seit Beginn der Unruhen über 1.300 Menschen | |
gewaltsam ums Leben gekommen und über 10.000 festgenommen worden. | |
## "Es ist praktisch eine Geisterstadt" | |
Dschisr al Schughur ist mittlerweile fast vollständig verlassen. "Es ist | |
praktisch eine Geisterstadt", sagte Rami. "Fast jeder ist in benachbarte | |
Dörfer geflohen, aber viele sind darauf vorbereitet in die Türkei weiter zu | |
ziehen, falls Assads Truppen anfangen sie zu jagen." Ein Mann, der sich | |
noch in der Stadt aufhielt, bestätigte, dass die Stadt fast leer ist. Die | |
Bewohner eines benachbarten Dorfs berichteten hunderte Soldaten mit 27 | |
Panzern und 50 weiteren gepanzerten Fahrzeugen hätten sich gesammelt. | |
In einem Dorf sechs Kilometer vor Dschisr al Schughur sagte ein Mann einem | |
syrischen Reporter, der die Regierungstruppen begleitete, er sei froh, dass | |
die Streitkräfte gekommen seien, um sie vor den Kriminellen zu beschützen. | |
Die Dorfbewohner warfen Rosen und boten den Soldaten Käse und Joghurt an. | |
Die Regierung überwacht die Berichterstattung in Syrien streng. | |
Ausländische Journalisten werden seit Beginn der Unruhen nicht mehr in dem | |
Land geduldet. | |
Während die Truppen vorrückten, flohen viele Syrer über die 850 Kilometer | |
lange Grenze mit der Türkei. In der Nähe der türkischen Stadt Guvecci | |
konnten die Flüchtlinge am Donnerstag die Grenze problemlos überqueren. | |
Türkische Grenzposten stellten auf der Straße Tische auf und verzeichneten | |
die Namen der Einreisenden. Syrische Grenzwachen waren nicht in Sicht. | |
"Wir werden unsere Türen für alle Syrer, die Zuflucht in unserm Land | |
suchen, offen halten", sagte der türkische Ministerpräsident Recip Tayyip | |
Erdogan am Donnerstag. | |
10 Jun 2011 | |
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