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# taz.de -- Gregor Gysi über Antisemitismus-Debatte: "Wir müssen der Kritik G…
> Gregor Gysi, Fraktionschef der Linken, erklärt, warum Deutsche nicht
> alles von Israel fordern dürfen - und wie die DDR sein Bewusstsein dafür
> geschärft hat.
Bild: Gysis Forderung an die Linke: Deutsche Geschichte bindet.
taz: Herr Gysi, gibt es in der Linkspartei Antisemitismus?
Gregor Gysi: Nein. Antisemitismus bedeutet, Juden oder Jüdinnen zu
benachteiligen oder Schlimmeres zu tun, weil sie Juden oder Jüdinnen sind.
Das kenne ich aus unserer Partei nicht. Der Begriff wird derzeit leider
inflationär verwandt.
Es geht um die Frage, welche Kritik an Israel antisemitisch ist.
Es gibt bei einigen auch in unseren Reihen zu viel Leidenschaft bei der
Kritik an Israel. Die gibt es nicht bei Ägypten, nicht bei Libyen,
inzwischen nicht einmal mehr bei den USA - aber sofort, wenn es um Israel
und Palästina geht. Das macht mich nachdenklich.
Die linke Bundestagsabgeordnete Inge Höger hat einen Schal getragen, auf
dem Israel auf der Landkarte nicht existiert. Ist das antisemitisch?
Nein. Dieser Schal ist ihr überreicht worden, sie hat nicht genau
hingeschaut und mir später gesagt, es tue ihr leid. Damit ist die Sache
geklärt.
Wenn Höger das bewusst getragen hätte - wäre das antisemitisch?
Das ginge jedenfalls nicht. Das würde den Wunsch ausdrücken, dass Israel
nicht mehr existiert, also dass Israel und Palästina ein Staat sind. Das
dürfen Deutsche nicht fordern.
Hannah Arendt und Martin Buber waren, auch es wenn lange her ist, für die
Ein-Staaten-Lösung. Was ist schlimm daran?
Wenn ein Palästinenser oder Israeli einen binationalen Staat fordert, ist
das sein gutes Recht. Es darf auch in Ecuador jeder einen gemeinsamen Staat
für Palästinenser und Juden fordern. Aber nicht in Deutschland.
Also gilt hierzulande ein Denkverbot in Bezug auf die Ein-Staaten-Lösung?
Nein, kein Denkverbot. Aber wer das hierzulande fordert, ist ahistorisch.
Die Juden waren 2.000 Jahre lang eine Minderheit in verschiedenen Ländern,
die immer wieder verfolgt wurde. Die Nazis haben sechs Millionen Juden
industriell vernichtet, um sie auszurotten. Trotzdem leben heute Deutsche
in einem Staat, in dem sie die Mehrheit sind. Es geht nicht, dass Deutsche
nach dem Holocaust Juden das Recht auf einen jüdischen Staat streitig
machen.
Warum?
In einem jüdisch-palästinensischen Staat wären die Juden wieder eine
Minderheit. Deshalb darf ein Palästinenser einen binationalen Staat fordern
- wir dürfen das nicht. Wir sind gebunden durch unsere Geschichte. Auch
jeder deutsche Linke muss begreifen: Deutsche Geschichte bindet nicht nur
Konservative, sondern auch ihn.
Der Beschluss der Linksfraktion legt nahe, dass, wer einen binationalen
Staat fordert, antisemitisch ist.
Das ist ein Missverständnis. Im Entwurf des Vorstands kam das Wort
Antisemitismus gar nicht vor. Die Fraktion wollte dies hinzufügen, um
klarzumachen, dass wir gegen Antisemitismus sind. So ist dieser Eindruck
entstanden.
Aber wer in der Linksfraktion arbeitet, darf nicht für die
Ein-Staaten-Lösung sein. Das ist doch ein Denkverbot.
Nein, Quatsch! Das ist kein Maulkorbbeschluss. Wir können über alles
nachdenken und über alles diskutieren. Es gibt kein Verbot, Israel zu
kritisieren. Ich finde die Siedlungspolitik indiskutabel, der Angriff auf
Gaza war indiskutabel. Es gibt Pläne, arabischen Israelis, die sich nicht
loyal zum Staat verhalten, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen - eine
unmögliche Idee. Sie haben Anspruch auf gleiche Rechte wie jüdische
Israelis. Ich bin da nicht einseitig und finde die extrem unkritische
Haltung von BAK Shalom …
… einem Arbeitskreis in der Linkspartei …
… ich finde diese Haltung falsch. Aber: Wir müssen Grenzen der Kritik an
Israel setzen, die mit dem Holocaust zu tun haben. Das hat die Fraktion
getan.
Es verwundert, dass die drei Abgeordneten, die im vergangenen Jahr an der
Gaza-Flottille teilnahmen, von Ihrer Partei dafür gefeiert wurden, jetzt
aber die Unterstützung verboten ist.
Ich fand die Flottille im letzten Jahr richtig und den völkerrechtswidrigen
Einsatz der israelischen Armee falsch und völlig überzogen. Dann aber
tauchte das Gerücht auf, dass die Flottille von den Grauen Wölfen
mitfinanziert wurde. Es ist bis heute unklar, ob das stimmt. Wer trägt in
diesem Jahr politisch, finanziell und organisatorisch die Verantwortung?
Das müssen wir wissen. Nur dann können wir entscheiden, ob eine Teilnahme
sinnvoll ist. Deshalb hat die Fraktion beschlossen, dieses Jahr bei der
Flottille nicht mitzumachen. Die Strukturen dort müssen absolut transparent
sein. Wenn das so ist, bitte. Dann überlegen wir neu.
Steht die Linksfraktion in diesen drei Punkten - Nein zur Flottille, zum
Warenboykott, zur Ein-Staaten-Lösung - hinter Ihnen?
Ja.
Der linke Flügel kolportiert, Ost-Reformer hätten damit gedroht, zur SPD
überzutreten, und Sie auf diese Weise zu diesem Beschluss gezwungen. Stimmt
das?
Nein. Und Ihre Bezeichnung Ost-Reformer auch nicht.
Also frei erfunden?
Es gab Abgeordnete, die gesagt haben: Wir werden jetzt über die Medien
massiv zu einer unserer Meinung nach falschen Israel-Kritik Stellung
nehmen. Das wollte ich nicht, sondern lieber eine Verständigung in der
Fraktion.
Der linke Flügel fühlt sich von Ihnen erpresst, weil Sie mit Rücktritt
gedroht haben.
Auch das stimmt nicht. Es gab nur einige Abgeordnete, die vor der
Abstimmung die Fraktion verlassen haben, um die Einstimmigkeit zu
ermöglichen, wofür ich ihnen dankbar bin.
Die Strömung "Sozialistische Linke" redet vom "Missbrauch der Schoah für
parteiinterne Zwecke." Damit sind Sie gemeint, oder?
Bei Strömungen ist das Verhalten in der Fraktion das eine, die Erklärung
danach etwas anderes. Dies ist offenbar der Versuch, sich im eigenen Lager
zu rechtfertigen. Dabei kann man auch zu weit gehen.
Ist dieser Streit um Israel ein Ost-West Phänomen?
Es gibt verschiedene Prägungen. Die Bundesrepublik war mit Israel
befreundet, da lag es für die Opposition nahe, sich auf die Seite der
Schwächeren, der Palästinenser zu schlagen. Außerdem stützte die
Imperialismustheorie diese Sicht. Aber es ist falsch, in der Ideenwelt der
siebziger Jahre zu verharren.
Nerven Sie diese Westlinken?
Nein. Ich bin Zentrist. Die Westlinken haben auch wichtige Stärken, zum
Beispiel ihr Selbstbewusstsein.
Und im Osten?
In der DDR mussten wir immer solidarisch mit den Palästinensern sein, auch
mit anderen arabischen Völkern. Nur mit Israel nicht. Die DDR hatte noch
nicht einmal diplomatische Beziehung zu Israel. Das hat im Osten ein Art
schlechtes Gewissen gegenüber Israel genährt.
Woher rührt Ihr Interesse an Israel? Aus Ihrer Ostbiografie mit jüdischen
Vorfahren?
Wissen Sie, das Interessante an meinem Elternhaus war, dass ich nicht
provinziell aufgewachsen bin, obwohl die DDR-Bürger zur Provinz gezwungen
wurden. Wir hatten Gäste aus den USA, England, sogar aus Südafrika. Mein
Vater …
… Klaus Gysi, der in der DDR Kulturminister und Staatssekretär für
Kirchenfragen war …
… war allen Religionen gegenüber tolerant, natürlich der jüdischen, aber
auch den christlichen Kirchen gegenüber.
Warum haben Sie diese Leidenschaft für Israel?
Ich interessierte mich auch ungeheuer für Libyen, Syrien und Lateinamerika.
Aber richtig ist, dass Israel etwas Besonderes für mich ist. Einerseits
weil ich viele Angehörige durch die Nazis verloren habe, andererseits weil
es ein Faktor war, der in der DDR nicht existierte. Dort wurde ja das
Kunststück vollbracht, das Wort jüdisch im Zusammenhang mit Israel zu
vermeiden. Wenn ein Funktionär vom jüdischen Staat Israel redete, war er
ruck, zuck weg.
Gab es in der DDR unter der Flagge des Antizionismus antisemitische
Ressentiments?
Ich habe das so nicht erlebt. Was ich erlebt habe, ist eine tiefe
Intellektuellenfeindlichkeit. Das war eine Art Ersatz. Ich hatte aber eine
Frage an meinen Vater, die er mir nie beantworten konnte.
Jetzt machen Sie uns neugierig.
Das war 1967, beim Sechstagekrieg. Damals rief ein Mitarbeiter des ZK bei
bekannten Jüdinnen und Juden an und fragte, ob sie bereit seien, eine
kritische Erklärung gegen Israel zu unterschreiben. Einige haben das
gemacht, andere abgelehnt.
Gab es Repressionen, gegen jene, die sich weigerten?
Nein, es gab keinen Druck. Am nächsten Tag habe ich aber meinem Vater
gefragt: Woher hatte dieser ZK-Mann die Liste? Mein Vater sagte: Musst du
mich so einen Mist fragen? Er hatte keine Antwort darauf, woher das ZK so
schnell eine Liste mit vielen Namen und Telefonnummern bekannter jüdischer
Deutscher in der DDR hatte.
16 Jun 2011
## AUTOREN
Ines Pohl
Stefan Reinecke
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