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# taz.de -- Grüne vor der Abgeordnetenhauswahl: Die Vision der Renate Künast
> Die grüne Spitzenkandidatin wirbt für einen neuen Politikstil:
> Lösungssuche mit Betroffenen vor Ort. Kann sie dieses Versprechen
> einlösen?
Bild: Die Frau am Tisch: Renate Künast
Visionen. Renate Künast steht dazu. Anders als vom Uraltkanzler Helmut
Schmidt einmal behauptet, müsse sie deshalb auch nicht zum Arzt, meint die
Spitzenkandidatin der Grünen. Im Gegenteil. "Ich bin Visionärin!",
verkündete Künast kürzlich bei einer Podiumsdiskussion. Und fügte dann
hinzu: "Ohne Visionen weiß ich nicht, wohin ich fahren soll!"
Hätte man sich in den 80er Jahren vorgestellt, dass die Grünen die Macht in
Berlin übernehmen würden, wäre die Vision klar gewesen. Die Stadt hätte so
ähnlich ausgesehen, wie sie sich der Comic-Zeichner Seyfried damals
vorgestellt hatte. Bunt. Freakig. Schafe im Tiergarten. Kiffer im Park.
Kreuzberg rules the world. Radikal anders auf jeden Fall als das real
existierende Berlin.
Als die Alternative Liste, wie die Grünen hier damals noch hießen, 1989
dann erstmals in den Berliner Senat gewählt wurden, sorgten sie tatsächlich
für einschneidende Änderungen: Busspuren auf dem Kudamm. Tempo 100 auf der
Avus. Was heute banal klingt, wurde damals von einem großen Teil der
Berliner als Affront gewertet. Wochenlang demonstrierten sie mit Autokorsos
durch das irritierte Westberlin. Teile der veränderungsscheuen
Demonstranten sahen ihre Stadt schon eingemeindet in die DDR. Und das nur
wegen ein paar neuen Verkehrsregeln. Revolutionärer kann Realpolitik kaum
wirken.
Ähnlich stadtverändernde Eingriffe sind heute von den Grünen nicht mehr zu
erwarten. Und das nicht nur, weil außer Christian Ströbele kaum jemand in
der Partei noch auf die Idee käme, mit Seyfried-Comics zu punkten. Vor
allem weil sich die Stadt selbst - gerade in den letzten zehn Jahren unter
der rot-roten Koalition - verändert hat. Sie ist bei Weitem nicht perfekt.
Arbeitslosigkeit, S-Bahn-Chaos, Mietenexplosion. Es gibt jede Menge
unbewältigter Probleme. Doch von einer radikalen Wechselstimmung, wie man
sie 1989 in Westberlin oder zuletzt im Frühjahr in Baden-Württemberg spüren
konnte, ist Berlin weit entfernt.
Selbstverständlich haben sich auch die Grünen verändert. Wenn sie, um bei
der Verkehrspolitik zu bleiben, ähnliche Marken setzen wollten wie 1989,
müssten sie Hauptverkehrswege in Fahrradstraßen umwandeln, auf denen dann
wiederum Autospuren eingerichtet werden. Das mag spinnert klingen. Aber es
wäre ein Perspektivwechsel. Grundsätzlicher Vorrang für Radfahrer vor dem
motorisierten Verkehr, das wäre eine echte Alternative zur bestehenden
Verkehrspolitik. Eine Vision.
Doch die Grünen sehen sich heute als Partei für alle. Da tut man sich
schwer, einem Großteil der potenziellen Wähler auf die Füße zu treten. Die
grüne Verkehrsexpertin Claudia Hämmerling hat gerade ihren "Masterplan zur
Beschleunigung von Bussen und Trams" vorgestellt. Es geht um
Vorrangschaltung an den Ampeln, eine computergesteuerte Verkehrslenkung.
Das ist gut und richtig. Überfällig. Vielleicht sogar modern. Aber.
Wenn man in den letzten Monaten mit Renate Künast über ihre Kandidatur als
Regierende Bürgermeisterin der größten Stadt der Republik geredet hat, kam
sie meist schnell auf ihr Lieblingsthema: die Agrarreform. Ob im
persönlichen Gespräch, bei Talkshows im TV oder bei Podiumsdiskussionen,
stets erinnert sie gern an ihre Erfolge als Ministerin in der rot-grünen
Bundesregierung. Ihren Kampf gegen die Rinderseuche BSE. Bei ihrem
Amtsantritt im Januar 2001 hatte sie eine Marke gesetzt. Aus dem
Landwirtschaftsministerium ihres Vorgängers machte sie das
Verbraucherschutzministerium. Ein Perspektivwechsel, der noch im letzten
Winkel der Republik verstanden wurde.
Lange Zeit ist es der Bürgermeister-Kandidatin schwer gefallen, zu
erklären, wie sie Ähnliches im Roten Rathaus erreichen will. Sicher, sie
hat Schlagworte zur Hand. E-Mobility. Klimaschutz, natürlich. 100.000 neue
Arbeitsplätze. Industriepolitik. Bildung, Bildung, Bildung. Doch in der
Behauptung, dass sie die Beste wäre, um Fortschritte auf diesen
Themenfelder zu erzielen, gleicht Künast der politischen Konkurrenz.
Wirklich anders ist nur der Handlungsstil, den Künast verspricht. Ein
Wechsel in der politischen Kultur soll es sei. Drei Monate vor der Wahl hat
sie ein Bild gefunden, um zu verdeutlichen, was sie damit meint. "Ich bin
nicht die, die mit dem Hammer auf den Tisch haut", sagt Künast. "Ich gehe
mit Tisch und Stuhl durch die Stadt." Sie will sich mit den Leuten vor Ort
zusammensetzen. Probleme diskutieren. Lösungen suchen.
Das ist die Vision der Renate Künast.
Je nach Sichtweise kann man diese Vision als Floskel abtun. Oder als großes
Versprechen einer zeitgemäßen Politik in einer bürgerbewegten Demokratie
werten. Die Frage ist: Kann Künast dieses Versprechen einlösen? Kann sie
zumindest die Wähler davon überzeugen, dass die Grünen es ernst meinen?
Unterschiedliche Ansätze für von den Grünen verantwortete Politik waren
zuletzt in zwei Bezirken zu beobachten. In Pankow vergrätzt der
Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner mit kolossaler Sturheit die Anwohner
der Kastanienallee, die den Umbau ihre Straße nicht akzeptieren wollen. In
Friedrichshain-Kreuzberg umschmeichelt Bezirksbürgermeister Franz Schulz
die begehrenden Bürger so sehr, dass er gern mal kurzfristig die Meinung
wechselt. Künast dürfte irgendwo dazwischen liegen.
Klar ist nur eins: Umsetzen könnte sie ihre Vision nur als Regierende
Bürgermeisterin. Dafür muss sie entweder die CDU für diesen Politikstil
gewinnen. Oder die SPD am 18. September schlagen.
17 Jun 2011
## AUTOREN
Gereon Asmuth
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