# taz.de -- Debatte Schuldenkrise: Die alten Mythen leben noch | |
> Griechen und Deutsche verbindet eine komplexe Geschichte. Doch in der | |
> aktuellen Debatte um Staatshilfen kehren überkommene Stereotype zurück. | |
Bild: Auch sie ist zerbrechlich: Griechische Vase. | |
Vielleicht gehört es zu den Erkennungsmerkmalen von Krisen, dass als Erstes | |
die Sprache draufgeht. Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo | |
zu lesen wäre: "Die Griechen müssen mehr Opfer bringen", "es wird nur unter | |
Schmerzen besser werden", "die Griechen müssen mit ihrem Selbstmitleid | |
aufhören." | |
Die Griechen? Alle? Vom Schulkind bis zum Rentner? Welche Art von Schmerzen | |
werden hier empfohlen? Und mit wem würde man im Alltag so sprechen? Mit | |
Partnern auf Augenhöhe? Wohl mit niemandem außer mit Schülern oder unreifen | |
Anvertrauten, denen man nun endlich einmal wieder eine klare | |
Entwicklungsrichtung geben muss, sofern man Anhänger einer strikten | |
Ansagepädagogik ist. | |
Aus einer ökonomischen Krise wird so im Handumdrehen eine kulturelle. | |
Spannend ist dabei, wie sehr sich quer durch alle Medien eine bestimmte | |
Sprache ausbreitet, in der sich immer wieder die gleichen Wörter und | |
Satzfolgen Raum verschaffen, als hätte es in den letzten zwanzig Jahren | |
keine interkulturelle Sensibilisierung gegeben, als seien all die Seminare, | |
Broschüren und Debatten über den Umgang mit dem "Anderen" nie existent | |
gewesen. | |
Wie die berühmten englischen Kavalleriepferde, die sich beim Hornsignal in | |
einer bestimmten Formation aufstellen, rücken bestimmte stereotype | |
Formulierungen zuverlässig zusammen, sobald in diesen Tagen die Worte | |
Griechenland und Krise aufeinandertreffen. | |
## Im Fokus der Protestierer | |
"Warum lassen wir die Griechen nicht einfach pleite gehen?", prangt es in | |
großen Lettern von der Titelseite einer Boulevardzeitung. An diesem Satz | |
könnte man hinter jedes Wort ein Fragezeichen setzen. Wer ist dieses "wir"? | |
Sprachlich wird, und nicht nur im Boulevard, ein Kollektivismus produziert, | |
gegen den man sich sonst in Deutschland gern vehement stemmt. In der | |
ökonomischen Debatte wird er plötzlich tragfähig und bleibt weitestgehend | |
unwidersprochen. | |
Zählen zu diesem "wir" aber nicht auch die Griechen, die hier leben? Die | |
vielen Urlauber, die griechische Freunde haben, zu denen sie jedes Jahr | |
reisen? Oder die Iren, Portugiesen, Italiener, denen vielleicht bald eine | |
ähnliche Kritik droht? | |
Staubsaugerartig kassiert der ökonomische Diskurs alle jahrelang gepflegten | |
Rituale der Unterscheidung ein. Warum, so fragen sich zugleich viele | |
Feuilletonisten entsetzt, sind außerdem gerade wir Deutschen so stark in | |
den Fokus der griechischen Proteste geraten? Warum sind auf den Plakaten | |
auf dem Syntagma-Platz in Athen so auffällig viele antideutsche Sprüche zu | |
lesen? | |
Die Antwort ist einfach: Gerade junge Griechen fühlen sich verletzt von | |
dieser Art von abfälliger Sprache - nicht nur gegenüber ihrer Regierung, | |
sondern gegenüber ihrem Land und ihrer Kultur im Allgemeinen -, eben weil | |
sie ein positives Verhältnis zum modernen Deutschland haben. | |
## König Ottos politisches Erbe | |
Die historischen Bindungen zwischen Deutschland und Griechenland sind seit | |
jeher komplex. So geht die griechische Strafrechtsordnung ursprünglich auf | |
die bayerischen Strafrechtsordnung von 1813 zurück. Die Zeit des König Otto | |
ist in Griechenland in unzähligen Liedern und nationalen Mythologien | |
überliefert, die Erfahrungen der Nazizeit sind bis heute in der älteren | |
Generation zum Teil als unverarbeitete Traumata präsent. | |
Deutschland ist tief mit der griechischen Geschichte verbunden, auch wenn | |
wir zumeist das Land nur als paradiesischen Urlaubsort kennen und eben | |
wenig darüber wissen, dass es eine unglaublich reiche Theater- und | |
Kunstszene gibt, auch eine unterschätzte moderne griechische Literatur, die | |
längst den Sprung in die Postmoderne hinter sich hat. Zudem ist Berlin | |
eines der beliebtesten Reiseziele junger Griechen. | |
Es ist deshalb kein Wunder, dass man in Griechenland geglaubt und gehofft | |
hatte, gerade Deutschland müsste genau jetzt in der Lage sein, diese | |
Bindungen zu reflektieren und zwischen politisch-ökonomischen Fehlverhalten | |
und nationaler Identität zu unterscheiden. | |
Stattdessen werden die alten Klischees vom "südeuropäischen Schlendrian", | |
vom "Über-die-Verhältnisse-Leben" fröhlich wiederbelebt, obgleich jede | |
aufmerksame Reise nach Griechenland verdeutlicht, dass gerade diese | |
Gesellschaft tief gespalten und zerrissen ist in viele sehr | |
unterschiedliche Lebensentwürfe. | |
Die diffamierende Sprache, mit der deutsche Medien nun auf die Situation im | |
Land reagieren, verwundert zudem, da viele Deutsche Häuser in Griechenland | |
besitzen und mehrfach im Jahr in das Land reisen - manche sogar seit über | |
dreißig Jahren. Hier offenbart sich ein Dilemma des rein touristischen | |
Blicks: Die griechische Kultur wurde jahrzehntelang mit Slogans wie "Lebe | |
deinen Mythos in Griechenland" verkauft. | |
Ein Blick auf die Angebote von Studienreisen und anderen | |
Tourismusunternehmen zeigt, wie sehr man sich in Griechenland selbst auf | |
dieses falsche Bild eingelassen hat: Fast 90 Prozent aller Angebote führen | |
zu antiken Stätten, Tempeln, Ruinen oder landschaftlich reizvollen Orten. | |
Das moderne Athen, Thessaloniki, Kalamata, Sparta und ihre Kulturszenen? | |
Fehlanzeige. | |
## Siegfried statt Thor? | |
Vielleicht könnte es ein Resultat dieser Krise sein, dass beide Länder | |
lernen, eine andere Form der Selbstauskunft und des Sprechen über den | |
"Anderen" zu entwickeln. Vielleicht werden dann auch in deutschen Zeitungen | |
nicht mehr geradezu zwanghaft antike mythologische Vergleiche herangezogen, | |
sobald es um die Situation im Land geht - so wie in der Überschrift über | |
einen Artikel in einer renommierten konservativen Tageszeitung, die sich | |
mit dem Athener Sparmaßnahmen beschäftigt. Sie lautete: "Sisyphos statt | |
Herkules". Wäre Deutschland in einer ähnlichen Situation, würde man wohl | |
Kopfschütteln ernten, fände man eine Überschrift wie "Siegfried statt Thor" | |
angemessen. | |
Wenn eines in der jetzigen Krise zu tun ist, an dem sich auch | |
Nicht-Volkswirtschaftler beteiligen können, dann ist es wohl dies: eine | |
andere Sprache einzufordern. Beschimpfungen sparen keinen Cent mehr ein. | |
Wer sich beleidigt fühlt, verschließt sich. Und Verweigerungen sind immer | |
Spiraldrehungen, die tiefer in eine Krise hineinführen. | |
23 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Gernot Wolfram | |
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