| # taz.de -- Wie sich die Biennale änderte: Noch einmal die Sanduhr umgedreht | |
| > Vor über 20 Jahren war unser Autor zum ersten Mal auf der Biennale. Nun | |
| > ist er noch einmal hingefahren und kämpft gegen das Gefühl, alles | |
| > niederbrennen zu wollen. | |
| Bild: Von vielen ersehnt: Ein goldener Löwe auf der Biennale. | |
| VENEDIG taz | Vielleicht ein letztes Mal wollte ich nach Venedig reisen, | |
| noch einmal in der Diskursgondel fahren, von Klischee zu Klischee. Es | |
| zeigte sich, dass ich mit meinem Vorhaben nicht allein war. | |
| Die Stadt war so voll wie noch nie. Mit den Wassertaxis vom Flughafen kamen | |
| sie, per Kanalbus vom Bahnhof, und vor der mondänen Uferpromenade, die den | |
| Markusplatz mit den berühmten Gärten der Biennale verbindet, legten | |
| hochhaushohe Überseedampfer an. Die Hotelpalazzos verblassten vor den | |
| aalglatten Luxusjachten der Milliardäre. | |
| Als gäbe es das alles nicht, aquarellierten von "Meistern" angeleitete | |
| Amerikaner die Stadtansicht, während junge, schlanke Händler aus Afrika mit | |
| ihren falschen Louis-Vuitton-Taschen die Brücken verstellten, dreimal am | |
| Tag von den Carabinieri verjagt, nervös wartend in den kleinen Gassen, wo | |
| hundert Meter von der Wasserkante der venezianische Minimalismus | |
| weiterlebt: der Mann mit der zweirädrigen Handkarre, die zweihundert | |
| Flaschen Coca-Cola vom Boot zum Restaurant befördert, die Vordertür als | |
| Hintertür. | |
| Ein letztes Mal insofern, als jedes Kritikerleben einer Sanduhr gleicht. | |
| Unvergleichlich spannend ist der erste Durchlauf, wenn man aufspringt, | |
| mitfährt, abspringt, sich in den Schatten stellt, um nicht geblendet zu | |
| werden, und sich blenden lässt, um nicht mehr an sich selbst zu denken. | |
| Beim zweiten Mal, die Sanduhr einmal umgedreht, ist es schon anders, weil | |
| es Leute gibt, die einem Komplimente machen, und andere, die einem nicht | |
| mehr in die Augen schauen. Spätestens dann hat man begriffen, weiß aber | |
| noch nicht, was. | |
| Irgendwann aber weiß man nicht mehr, wie oft man die Uhr auf den Kopf | |
| gestellt hat: Neunmal? Elfmal? Es fallen einem Namen nicht mehr ein, die | |
| einmal wichtig waren, und wie in einer Trickfilmanimation rauscht der | |
| Pavillon an einem vorbei, der deutsche zum Beispiel, und die Jahreszahlen | |
| purzeln durcheinander. Das Hotelzimmer ist dasselbe, zwanzig Jahre später. | |
| Aus dem Spiegel schaut ein Mann mit Glatze. | |
| ## Nur einer von vielen | |
| Die Verlockung ist groß, Bilanz zu ziehen, es gut sein zu lassen. Alle | |
| Vermittler haben diese Krankheit. Die Kuratorin der zehnten Documenta ließ | |
| sie als "X" ausrufen, die Drohung kolportierend, dass es die letzte sein | |
| werde. Bitterlich kämpfen miteinander zwei Gefühle, das cäsarische und das | |
| neroistische. Das cäsarische wünscht sich, dass die eigenen Entdeckungen | |
| und Präferenzen bleiben mögen, überführt ins Pantheon, und das neroistische | |
| möchte alles niederbrennen, um der furchtbaren Enttäuschung zu entgehen, | |
| einer von vielen gewesen zu sein. | |
| Also kurz vor Bilanzschluss das Gleiche noch einmal: die wuchernden | |
| Kunstwerke, die verschwiegenen, die konstruktiven, die destruktiven, die | |
| naiven, die listigen. So sticht der serbische Pavillon den holländischen | |
| aus durch Eigensinn; der polnische den russischen durch Gegenwart; der | |
| englische den amerikanischen per Unbegreiflichkeit. | |
| Am zweiten Abend, allein, wird mir klar, dass ich etwas verpasst habe. Den | |
| Anschluss. Nach sieben Uhr abends sind alle Ausstellungsorte geschlossen. | |
| Ach, früher: ein Abend am Wasser, Pizzeria Schrabbelia, lange Tische am | |
| Wasser. Da war ein Arzt, der sich als Kurator versuchen wollte; und ein | |
| Galerist aus dem Osten, der kein Wort Italienisch konnte; und ein | |
| Hans-Dampf-in-allen-Gassen, der noch Redakteur werden sollte. Was noch mein | |
| Posten war. Und der Arzt ist längst am MoMA, der Galerist Millionär, und | |
| der Hans Dampf gestorben. Wenn man das erst anfängt: Wer alles gestorben | |
| ist. Kein Wunder, dass ich hier allein sitze bei Spaghetti Vongole, während | |
| Phil Collins gerade erklärt, wie er Songs schreibt. Songs schreibt, hahaha! | |
| ## "Man muss da durch" | |
| Natürlich habe ich, wie die meisten der Kritiker, über die Jahre angemahnt, | |
| man möge die Veranstaltung nicht weiter aufblasen. Was auch ein Wort in | |
| eigener Angelegenheit war, denn ab einem bestimmten Volumen kann man nicht | |
| mehr wirklich sagen, was das alles taugt. Dennoch, man muss da durch: | |
| dreißig "echte" Pavillons in den Giardini; hunderte von Metern | |
| solokuratierte Kunstfiesta in den Hallen der alten Seilerei; einige | |
| Themenausstellungen in mehr oder minder begüterten Museen oder Palästen; | |
| und die über die ganze Stadt wuchernden Dependancen von Ländern wie … | |
| Bangladesch oder Wales. | |
| Der Mistkäfer, habe ich bei Jean-Henri Fabre gelesen, versteckt seine | |
| Mistkugel unterirdisch, an der er zwei Wochen ununterbrochen frisst, | |
| während er das Verdaute als Humus ununterbrochen auskackt. Das ist die | |
| Rolle des Kritikers - er produziert den Nährboden dessen, was wachsen wird. | |
| Indem er in rasendem Tempo sortiert - die guten ins Kröpfchen -, beweist | |
| er, dass es doch geht, dass man kunstkritisch fressen kann, was man | |
| kulturkritisch für unverdaubar erklärt hatte. Wir Mistkäfer widerlegen uns | |
| selbst bis zur Erschöpfung. | |
| Das naheliegende Ziel wäre, Kunst zu finden, die den Interpreten braucht, | |
| und das fernere, Kunst zu finden, die sich selbst genügt. Sagen wir, ein | |
| Kabinett der Reflexion: memento mori; Brunnen des Lebens; der Zyklus des | |
| Jahres. Miniaturen als Allegorien in der platonischen Höhle. Ein weißer | |
| Raum als Themenpark. Alltag und Universum als polare Gewichte. Gibts nicht | |
| mehr, stimmts? Doch: der portugiesische "Pavillon" von Francisco Tropa. Im | |
| Januar hat er begonnen, den Raum im Sede Fondaco Marcello herzurichten, | |
| eine betörende Etage am Canale Grande mit eigenem Bootssteg. | |
| Prinzip Sodom: Wenn da nur einer ist, der …, dann muss diese Stadt nicht | |
| vernichtet werden. | |
| ## Eros ist out | |
| Von wegen Sodom. Die Kunst hat sich auf das Bauliche kapriziert, auf | |
| Labyrinthe, Käfige, Gerüste, Spiegel - Eros ist out. Kehrt er mal wieder, | |
| ganz zeitgenössisch, dann in der Fratze des Hässlichen, wie auf den | |
| pornografischen Karikaturen einer Hütte, die Franz West fertigen ließ und | |
| natürlich zum "Pavillon" deklariert hat. Im Inneren befinden sich zwei | |
| Toiletten nebeneinander ohne Trennwand mit Rotlichtbirne. Das wäre gar | |
| nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht vor der Hütte dieser alte Mann auf | |
| einem Stuhl säße, umstellt von Honoratioren oder wie man das nennt, und ein | |
| Kreis von aufgedrehten Besuchern, die einzeln auf den Sitzenden zugehen, | |
| Bussi oder Händeschütteln, und dann wieder zurücktreten. In der Rechten | |
| hält er einen Stock - wie ein Zepter. Es ist eine Audienz. Der alte König | |
| ist auch gar nicht alt, er sieht nur alt aus. Soeben hat er erfahren, dass | |
| er den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk bekommen wird. Die Trophäe selbst | |
| ist noch nicht aufgetaucht. | |
| Über zwanzig Jahre Venedig, und noch nie habe ich einen Goldenen Löwen | |
| gesehen. Aber am nächsten Tag, da ist er. Ein Mädchen hält ihn in den | |
| Armen, nein, eine junge Frau. Plötzlich ist er in einem Kasten | |
| verschwunden; dann wird er für eine Runde neu dazugekommener Fotografen | |
| wieder ausgepackt. An der linken Hand trägt sie einen goldenen Ring. Es ist | |
| die Witwe des Mannes, der im Soundtrack des deutschen Pavillons seinen | |
| unausweichlichen Tod beweint - wirklich beweint. | |
| Ganz schön morbide, diese Wahl, Franz West und Christoph Schlingensief. Wie | |
| das ineinanderrutschen kann, der Totenkult und das Selbstmitleid, und wie | |
| schwer es wieder zu trennen ist. Also das Piratenschiffchen über den Hafen | |
| genommen, die halbleeren und halbvollen Fabrikhallen abgegrast, und | |
| plötzlich einen Turm entdeckt, ein Backsteinturm im Hafen, stark wie eine | |
| Festung, elegant wie eine Kirche: Dort haben die Südafrikaner ihr Quartier | |
| aufgeschlagen. | |
| ## Soldaten lernen Tango | |
| Ich ignoriere die rote Kordel und steige die nagelneue Treppe hoch, um dann | |
| herabzuschauen auf eine exzentrische Figurengruppe: Sophie, einen blauen | |
| Rock schwingend wie eine gewaltige exotische Blüte, bringt einer Truppe von | |
| Soldaten, die (noch) in Formation stehen, den Tango bei. Sophie, die Magd, | |
| ist das Alter ego von Mary Sibande, einer noch nicht einmal dreißigjährigen | |
| Künstlerin, die anknüpft an die rauschhafte Figürlichkeit von Juan Muñoz. | |
| Plötzlich ist das alles weg, das Klaustrophobische, Manische, Verschwitzte; | |
| Venedig nur noch ein Schema blassroter Schwingen am Horizont. Vom Torre di | |
| Porta Nuova aus stellt sich der Funkkontakt her; ich muss an meinen ersten | |
| Besuch in der Tate Modern denken oder die rauschhafte Besichtigung der | |
| Retro von Jan Berdyszak in der ehemaligen Brauerei von Poznan, die | |
| Zweckentfremdung der Industriearchitektur als ultimative Heimat | |
| zeitgenössischer Kunst. | |
| Die Zeit in Venedig ist nicht in Schichten niedergelegt, sondern vertikal | |
| organisiert. Man muss nur zur "falschen" Tür reingehen. Das legt sich aufs | |
| Gemüt. Man glaubt, an einem tückischen Ort zu sein. Was man sieht, ist | |
| Betrug an dem, was man gerade nicht sieht. Deshalb gleicht Venedig zu | |
| verlassen auch einem Akt der Befreiung, obwohl die Sehnsucht nach der | |
| Rückkehr bald an einem nagt. | |
| Am letzten Tag entdecke ich einen kleinen Mann im Anzug, der vor der Tür | |
| eines Hauses steht, sich nach links wendet, die Hände verschränkt, sich | |
| nach rechts wendet, die Arme fallen lässt, losgehen zu wollen scheint, aber | |
| stehen bleibt, die Hände verschränkt … Die Nachbarn grüßen, die Touristen | |
| bemerken ihn nicht. Kein Auto, das ihn überfahren könnte. Der gewisse | |
| Geruch vom Kanal her. Er bleibt stehen, die Stadt zieht vorbei. Mir wird | |
| schlagartig klar, dass dies der beste Ort der Welt ist, um sein Gedächtnis | |
| zu verlieren. | |
| 24 Jun 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulf Erdmann Ziegler | |
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| Performance | |
| Surrealismus | |
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