# taz.de -- Debatte Griechenland: Alle haben mitgefressen | |
> Die politische Lüge braucht ein Publikum, das sich belügen lässt: Die | |
> Mehrheit der "Empörten" in Athen und Thessaloniki gehört leider dazu. | |
Eine Mauer aus Eisen ist das Symbol für die jüngste Etappe der griechischen | |
Misere. Die Mauer wurde von der Polizei errichtet und soll die politische | |
Klasse vor den demonstrierenden Massen schützen. | |
Die "Empörten", wie sie sich nach spanischem Vorbild nennen, werden bis | |
Mittwoch nächster Woche das griechische Parlament belagern und die | |
Fernsehbilder aus Athen bestimmen. Dann entscheiden die Abgeordneten über | |
das mittelfristige Haushaltsprogramm, das die Regierung ausgearbeitet hat. | |
Von der Zustimmung machen EU-Kommission, EZB und IWF die Auszahlung der | |
nächsten Rate aus ihrem Kreditfonds abhängig. Wenn die fälligen 12 | |
Milliarden Euro ausbleiben, ist Griechenland binnen zwei Wochen pleite. | |
Die Empörung der Griechen ist verständlich. Das erste Sparprogramm vom Mai | |
letzten Jahres ist gescheitert und hat das Land nur noch tiefer in die | |
Rezession gezogen, weil es die Masseneinkommen um gut ein Viertel | |
beschnitten hat. Jetzt folgt der zweite Streich mit neuen Steuererhöhungen | |
und einem Privatisierungsprogramm, das dem Staat 50 Milliarden Euro in die | |
Kasse bringen soll. Wieder sind die Lasten ungleich verteilt, ohne dass ein | |
Ende der Krise abzusehen wäre. | |
## Wähler der "Systemparteien" | |
Jeder Einzelne der Empörten sieht sich ungerecht behandelt und | |
hintergangen. Und so schreien sie den vorbeipreschenden Limousinen der | |
Politiker hinterher: "Ihr seid Diebe und Lügner!" Sie könnten auch | |
schreien: "Wir sind das Volk!" Und das mit Recht. Nach einer Umfrage sind | |
auf dem Syntagma-Platz alle sozialen Schichten und Alterskohorten | |
repräsentativ vertreten. Das gilt auch für die Wählergruppen. 60 Prozent | |
der Befragten haben bei den letzten drei Wahlen die beiden "Systemparteien" | |
gewählt: Pasok oder Nea Dimokratia. Die Empörten sind also auch "das Volk", | |
das seiner politische Klasse immer wieder neue Macht verliehen hat. Seit 30 | |
Jahren haben rund 75 Prozent aller Wähler für die Politiker gestimmt, die | |
sie jetzt als Diebe und Lügner beschimpfen. | |
Aber fühlen sich alle Empörten zu Recht hintergangen? In der Politik gehört | |
zur erfolgreichen Lüge auch das Publikum, das sich belügen lässt. Oder es | |
nicht so genau wissen will, wenn die griechische Staatsschuld von 1981 bis | |
2011 von 30 auf 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen ist. | |
Das politische System, das diese Entwicklung zugelassen und begünstigt hat, | |
wurde der griechischen Gesellschaft nicht aufgezwungen, sondern durch sie | |
selbst ständig erneuert und bestätigt. | |
Die Erbübel dieses Systems waren auch den Griechen, die jetzt zu Empörten | |
wurden, stets präzise bewusst: Das Land leistete sich einen aufgedunsenen | |
und ineffektiven Staatsapparat, dessen Kosten die Steuereinnahmen ständig | |
und bei Weitem überstiegen. Der Klientelstaat, der vor allem den Interessen | |
der jeweils herrschenden Partei diente, und die notorisch schlechte | |
Steuermoral - vor allem der begüterten Klasse und der Freiberufler - haben | |
Griechenland in den Ruin geführt. Wie viele Griechen haben gegen dieses | |
ruinöse System rebelliert, solange es gut zu gehen schien? Und wie viele | |
haben ihre politischen "Beziehungen" für private Interessen genutzt oder | |
ihre Einkommensverhältnisse verschleiert? | |
## Klasse der Steuerhinterzieher | |
Die Empörten sind in der Tat "das Volk". Aber das gilt auch für ihr | |
Verhältnis zum Staat. Und nichts spricht dafür, dass auf den Straßen von | |
Athen und Thessaloniki die Klasse der Steuerhinterzieher schwächer | |
repräsentiert ist als in der Gesamtgesellschaft. | |
Natürlich bietet der Klientelstaat nicht allen Bürgern die gleichen | |
Chancen, aber wo er zum System wird wie in Griechenland, sind fast alle | |
kontaminiert. Und solange die eigenen Kinder gute Aussichten auf einen | |
bequemen Stuhl im öffentlichen Dienst hatten, waren über den parasitären | |
Staatsapparat wenig Klagen zu hören. Das ist der Grund, warum sich viele | |
Griechen, die ihre Politiker heute als Lügner verfluchen, zugleich selbst | |
belügen. Und es erklärt vielleicht, warum von allen Vertretern der | |
herrschenden Klasse der Vizeministerpräsident Theodoros Pangelos am meisten | |
verhasst ist. | |
Der hat zu Beginn der Krise den Spruch gewagt: "Faghame oloi", zu Deutsch: | |
Wir haben doch alle mitgefressen. Das war aus dem Munde eines Politikers, | |
der sich zwei Meter Leibesumfang angefuttert hat, natürlich eine | |
Provokation. Aber die Empörung über Pangalos zeigt an, wie sehr die halbe | |
Wahrheit schmerzt, die der alte Zyniker ausgesprochen hat. | |
## Neuer alter Populismus | |
Von einer Gesellschaft, die so stark gebeutelt wird, kann man kaum | |
erwarten, dass sie sich in einen Prozess der Selbstbesinnung stürzt. Aber | |
Empörung wird für die Zukunft mehr bewirken, wenn sie Selbstkritik nicht | |
schon im Ansatz erstickt. Die neue Protestkultur in Griechenland ist ein | |
großer Schritt in Richtung auf eine Gesellschaft, die sich von ihrer | |
politischen Klasse emanzipieren will. Das zeigt sich auch daran, dass sich | |
die Empörten nicht von einzelnen Interessengruppen vereinnahmen lassen - | |
auch nicht von den häufig wie Berufsgilden agierenden Gewerkschaften. | |
Diese Bewegung und was sie ausdrückt, sollte endlich auch in Brüssel und in | |
den EU-Partnerstaaten ernst genommen werden. Aber sie wird keinen Beitrag | |
zur Überwindung der griechischen Krise leisten, wenn sie ihre Wut nur auf | |
die griechische politische Klasse und die ausländischen Unterdrücker | |
projiziert. Wenn Sarkozy und Merkel als neue Nazis gebrandmarkt werden, ist | |
das auf dem Syntagma-Platz sicher keine Mehrheitsmeinung. | |
Doch die Wut auf die "neuen Besatzer" und die vielen Nationalfahnen | |
verweisen auf einen neuen alten Populismus, der für Einsichten in die | |
innergriechischen Ursachen der Krise nicht empfänglich macht. In dieser | |
Stimmung können die Massen einem Demagogen wie Mikis Theodorakis zujubeln, | |
der Griechenland den Ausstieg aus EU und Eurozone empfiehlt. | |
Um die kollektive Vernunft der griechischen Gesellschaft ist es nicht gut | |
bestellt, solange Tausende einem ökonomischen Idioten wie Theodorakis | |
zuhören, der ihnen die Rückkehr zur Drachme aufschwatzen will - ohne dass | |
auch nur einer von ihnen ein Plakat hochhält, auf dem geschrieben steht: | |
"Mikis, wie viele Steuern hast du in den letzten 30 Jahren gezahlt?" | |
26 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Niels Kadritzke | |
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