# taz.de -- Debatte Militär in der Türkei: Glaube und Service | |
> Erdogans Sieg über das Militär ist eine gute Nachricht und trotzdem kein | |
> Sieg für die Demokratie. Wer kann ihn noch kontrollieren? | |
Es ist vollbracht. Die türkische Armee, über Jahrzehnte der Angstgegner | |
aller demokratisch gesinnten Kräfte des Landes, ist endlich dort, wo sie | |
hingehört. In der Kaserne, unter der Kontrolle einer demokratisch gewählten | |
Regierung. | |
Als ich die Türkei im Jahr 1979 zum ersten Mal besuchte, herrschte dort so | |
etwas wie eine vorrevolutionäre Situation. Das Land war in völliger | |
Aufruhr. Linke und rechte Bewegungen bekämpften einander erbittert, täglich | |
wurde auf den Straßen geschossen, die Gewerkschaften streikten, etliche | |
Fabriken waren von Arbeitern besetzt. In einigen, sogenannten befreiten | |
Zonen, vor allem am Schwarzen Meer, regierten bereits Volkskomitees. Allen | |
war klar, dass ein Umbruch bevorstand. | |
Knapp ein Jahr später war es dann so weit: Im September 1980 putschte das | |
Militär und verwandelte das Land in ein großes Gefängnis. Die Linke wurde | |
komplett zerschlagen, viele ihrer wichtigsten Sprecher flohen ins Ausland, | |
etliche landeten in Deutschland. Die Kurden, durch das Militär völlig in | |
die Ecke gedrängt, begannen ihren bewaffneten Aufstand. Seit 1984 bekämpft | |
die Armee in einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung nun die PKK, | |
politische Lösungen scheiterten in den letzten 30 Jahren nicht zuletzt am | |
Militär. In dieser Woche wurde das Primat der Politik nun endgültig | |
besiegelt. Nicht mehr das Militär entscheidet über neue Regierungen, | |
sondern die Regierung entscheidet über den neuen Generalstab. | |
## Beredte Freudlosigkeit | |
Man sollte Freudenstürme unter den türkischen Demokraten vermuten, doch es | |
ist seltsam still im Land. Zwar liest man Jubelarien über den Drachentöter | |
Tayyip Erdogan von den Claqueuren der regierungsnahen Presse, doch | |
ansonsten herrscht betretenes Schweigen. Der Grund ist einfach. Die Armee | |
wurde besiegt, doch die Sieger sind die Falschen. | |
Der heutige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der vor sechs Wochen | |
seine dritte Wahl in Folge gewann und zuletzt auf knapp 50 Prozent der | |
Stimmen kam, ist nach der Kapitulation der Militärs nun der unumschränkte | |
Alleinherrscher am Bosporus. Für die meisten Demokraten in der Türkei ist | |
das Anlass zu großer Sorge. Denn nun stellt sich mit aller Konsequenz die | |
Frage: Wie demokratisch ist eigentlich Herr Erdogan? Es lohnt sich ein | |
kurzer Blick auf seine Herkunft und seinen Werdegang. | |
Recep Tayyip Erdogan ist ein Istanbuler Junge aus einem der ärmsten Viertel | |
der Stadt. Seine Familie war in der Generation vor ihm vom Schwarzen Meer | |
eingewandert, pendelte aber nach wie vor zwischen Dorf und Großstadt. | |
Soziologisch ist Erdogan damit Repräsentant einer Bevölkerungsschicht, die | |
mittlerweile die Mehrheit in der Türkei stellt: Dorfbewohner, die mehr | |
schlecht als recht an der Peripherie der Großstädte leben, mental noch im | |
Dorf zu Hause sind, in der Realität aber die Verwerfungen einer Metropole | |
wie Istanbul meistern müssen. | |
Wie vielen Migranten in Deutschland auch bietet ihnen in dieser Situation | |
vor allem ihr Glaube und ihr unbedingtes Festhalten an ihren Traditionen | |
Halt. War der anatolische Dorfglaube tolerant und die Tradition den | |
Gegebenheiten angepasst, so ist der Glaube der entwurzelten Dörfler nun | |
unbedingt und die Tradition ein Hindernis, sich in der neuen Urbanität | |
einzuleben. | |
Der politische Aufstieg Tayyip Erdogans spielt sich komplett in diesem | |
Milieu ab. Er wird Aktivist in der damaligen islamischen Partei von | |
Necmettin Erbakan, in Deutschland bekannt als Milli Görüs. Er ist ein | |
begnadeter Demagoge und Aktivist. 1993 wird er Oberbürgermeister von | |
Istanbul und regiert pragmatisch. Statt auf Kulturkampf setzt er auf | |
kommunalen Service und legt damit den Grundstein dafür, dass Istanbul bis | |
heute von islamischen Bürgermeistern regiert wird. | |
"Service" und "Merkantilismus" sind immer noch Schlüsselwörter für Erdogans | |
Regierung. In jedem Wahlkampf zählt er penibel auf, wie viele | |
Autobahnkilometer gebaut wurden und um wie viel reicher er das Volk machen | |
will. Dieser Pragmatismus hat dazu geführt, dass in der türkischen | |
Demokratiebewegung bis heute kontrovers über Erdogan diskutiert wird. Ist | |
er ein religiöser Ideologe, oder hat er sich zum Demokraten gewandelt? | |
## Demokratie als Behelf | |
In den 90er Jahren hat Erdogan einmal gesagt: "Demokratie ist für mich wie | |
eine Straßenbahn. Wenn ich am Ziel bin, steige ich aus." Erdogan ist jetzt | |
fast am Ziel, und damit wird die Frage, ob er nun aussteigt aus der | |
Demokratie oder ihr in der Türkei tatsächlich zum Durchbruch verhilft, zur | |
Schicksalsfrage des Landes. | |
Entschieden wird diese Frage anhand einer neuen Verfassung, die ab Herbst | |
im Parlament diskutiert werden soll. Die alte, immer noch geltende | |
Verfassung des Landes wurde von den Militärs nach dem Putsch 1980 in | |
Auftrag gegeben und zwei Jahre später verabschiedet. Es ist eine Verfassung | |
nach dem Geschmack der Militärs, die die Freiheitsrechte der Menschen stark | |
einschränkt. | |
Was jetzt kommt, wird eine Verfassung nach dem Geschmack Erdogans. Er hat | |
in den letzten Monaten wiederholt angekündigt, was er sich wünscht, und das | |
wird nicht unbedingt ein Freudenfest für Demokraten. Die Türkei sollte sich | |
nach den Vorstellungen Erdogans eine Präsidialverfassung geben. Wie in | |
Frankreich, wie in den USA. Einen Präsidenten, der nicht nur repräsentiert, | |
sondern regiert. Möglichst ohne lästigen Einspruch der Opposition oder der | |
Medien. Das wäre die dauerhafte Festschreibung des aktuellen Zustands. Die | |
Opposition ist im Moment völlig marginalisiert, und die Medien sind von | |
Erdogan so eingeschüchtert, dass Kritik nur noch in homöopathischen Dosen | |
geäußert wird. | |
Doch das ist jetzt eine politische Momentaufnahme. Kommt dagegen eine | |
Präsidialverfassung, wird das eine Diktatur auf Zeit. In der Türkei | |
womöglich auf eine ziemlich lange Zeit. Erdogan ist erst 57 Jahre alt, und | |
der Präsident wird für fünf Jahre gewählt und kann danach einmal | |
wiedergewählt werden. Der jetzige Präsident Gül ist bis 2014 im Amt. Danach | |
will Erdogan übernehmen und hätte dann Zeit bis 2024. Wird der Präsident in | |
der neuen Verfassung zum Regierungschef aufgewertet, kann die Türkei sich | |
auf eine One-Man-Show eines erzkonservativen, tief religiösen Mannes | |
einstellen. | |
5 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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