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# taz.de -- Ai Weiwei: Der chinesische Schmerzensmann
> In Bregenz sind Ai Weiweis Architekturprojekte zu sehen, in Winterthur
> werden frühe Fotoarbeiten von ihm gezeigt. Sein Blog ist gerade als Buch
> erschienen. Eine Annäherung.
Bild: Ai Weiwei mit seiner Installation "Sunflower Seeds" in London.
Als Pablo Picasso von Spaniens Regierung den Auftrag bekam, für den
Pavillon der Weltausstellung 1937 in Paris ein Bild zu malen, hatte er
eigentlich an eine Variation des Motivs Maler und Modell gedacht. Doch dann
machten am 26. April 1937 Flugzeuge der deutschen Legion Condor Guernica,
die heilige Stadt der Basken, dem Erdboden gleich. Spontan widmete er sein
Bild diesem Verbrechen. Später begründete er die Entscheidung damit, dass
sich der Künstler angesichts eines Konflikts, in dem Humanität und
Zivilisation auf dem Spiel stehen, "nicht gleichgültig" verhalten kann.
Das etwas abgenutzte Beispiel zeigt, wie schwer es ist, Kunst und Politik
so säuberlich zu trennen, wie es sich Gralshüter der reinen Kunst gern
wünschen. Aus den historischen Umwälzungen seiner Zeit kann sich ein
Künstler nur bei der Strafe der Bedeutungslosigkeit heraushalten. Das macht
die Formfrage nicht überflüssig. Gerade "Guernica" beweist nämlich auch, zu
welcher Formvollendung politische Kunst fähig ist.
Die Erkenntnis ließe sich anwenden auf den chinesischen Künstler Ai Weiwei,
der gerade hinter einer Schablone zu verschwinden droht. Kein Zweifel, dass
der weltweite Protest gegen seine Verschleppung überlebensnotwendig war.
Wiewohl dieses Ritual gefährlich schnell zur Selbstbestätigung geraten
kann. Wen beispielsweise soll die Leuchtschrift "Free Ai Weiwei" auf dem
Dach des Kunsthauses Bregenz wachrütteln, die Besucher des edlen
Zumthor-Baus dieser Tage von weitem begrüßt. Das gutbürgerliche Publikum,
das in dem schläfrigen Nobelresort am Bodensee dem touristischen Müßiggang
frönt?
Das Drama um den 1957 geborenen Mann funktionierte nach der alten
Reiz-Reaktions-Spirale. Der Westen kann sich China nicht anders vorstellen
denn als finstere Diktatur und stellt die Suchkameras so lange scharf, bis
einer auftaucht, der in das Muster "Dissident" passt. Der verhält sich
entsprechend. In seinem gerade veröffentlichten Blog der Jahre 2006-2009
nennt Ai sein Land "eine zunehmend der Verzweiflung anheimgefallene
Gesellschaft" und dessen Regierung "kriminell" und "totalitär". Immer
wieder wird es gelöscht. Jetzt sitzt der Mann, der 1981 in die USA
aufbrach, um ein "neuer Picasso" zu werden, in der Geiselhaft einer
Zuschreibung - hoffentlich nicht lebenslänglich.
## Minimalistische Eleganz
Diese Dialektik hat einen genialen Dilettanten zur Überlebensgröße
aufgepumpt. Und man tut diesem Mann, der "gewöhnlich sein" als sein
grundlegendes künstlerisches Ziel angibt, keinen Gefallen, wenn man ihn in
die Nähe der "großen Künstler der Renaissance" rückt, wie der Schweizer
Kurator Hans Ulrich Obrist in seinen eben erschienenen Gesprächen mit Ai.
Nur weil er ein so unscharfes Interesse an "everything and anything" hat:
von der Architektur über die Keramik bis zum World Wide Web. Und als
Tierschützer genauso gern auftritt wie als Kurator oder Stadtplaner.
Daraus nun aber den Schluss zu ziehen, dass er "völlig überschätzt" ist,
wie es kürzlich ein exilierter Landsmann Ais tat, der Kurator Hou Hanru,
ist ebenso grotesk. Zwar gibt Ai in den Gesprächen mit Obrist und in seinem
ebenfalls gerade erschienenen Blog der Jahre 2006 bis 2009 dem Affen
Kunsthasser jede Menge Zucker. Etwa, wenn er den Spruch wiederholt, wie ihm
während seiner "nutzlosen" New Yorker Jahre von 1983 bis 1993 aufgegangen
sei, wie wenig Kunst Arbeit am Werk sei, sondern "attitude und lifestyle" -
im Geiste Duchamps.
Das Fotomuseum im Schweizerischen Winterthur ruft noch einmal die Zeiten
des East Village auf. Und wer durch die von Urs Stahel besorgte, großartige
Ausstellung läuft, kann die Auswahl aus den rund 10.000 Fotos, die Ai in
seiner New Yorker Zeit geschossen hat, entweder als Kapitel aus dem Buch
"Der Künstler als junger Mann" lesen. Er kann sich aber auch in seinen
Vor-Urteilen bestätigt fühlen: So wie Ai Weiwei, Zou Lin oder Allen
Ginsberg in den einschlägigen Lokalitäten des East Village sehen eben
Bohemiens aus, die jeden verbogenen Kleiderbügel gleich als Kunst ausgeben.
Man braucht aber nur hinauf in den dritten Stock des Kunsthauses in dem
zwei Zugstunden entfernten Bregenz zu steigen, um zu bemerken, dass hier
kein gewitzter Scharlatan am Werk ist, sondern ein Mann mit hoch
entwickeltem Formbewusstsein. Dorthin hat Yilmaz Dziewior, der Direktor des
Hauses, eine Arbeit aus dem Jahr 2008 gestellt, die nur bedingt zu dem
Versprechen passt, das die Ausstellung im Titel führt: "Architektur". Acht
riesige Objekte aus rotbraunem Huanghuali-Holz stehen dort, nicht Möbel,
nicht Skulptur, nicht Modell. Wer durch die zwei Löcher in ihrer Mitte
schaut, erkennt die an- und abschwellenden Mondphasen. "Moonchest" ist ein
Werk von philosophischer Klarheit.
## Minimalistische Eleganz
Mag sein, dass Arbeiten wie diesen das Subtile, das man hierzulande an der
Kunst schätzt, fehlt. Doch wenn es einen roten Faden in dem Oeuvre des
chinesischen Schmerzensmannes gibt, dann ist es genau der der
minimalistischen Eleganz. Diese von Ai beschworene "Einfachheit" findet
sich in seinem selbst gebauten Atelier in Schanghai, dessen willkürlichen
Abriss man auf dem von Ai aufgenommenen Video nachverfolgen kann. Sie
findet sich aber auch in dem Relief "Remembering", das Ai 2009 an die
Fassade des Hauses der Kunst in München hängte.
Mit 9.000 Rucksäcken in fünf verschiedenen Farben erinnerte er an die 9.000
Schulkinder, die bei dem Erdbeben in der Provinz Sichuan ein Jahr zuvor ums
Leben gekommen waren, weil die Behörden ihre Schulgebäude so miserabel
gebaut hatten. "Sieben Jahre lebte sie glücklich" - der Titel seiner Arbeit
stammt von einer trauernden Mutter - kann man als das "Guernica" Ai Weiweis
lesen.
Mit diesem Befund soll nicht ein Künstler zum Formalisten
herunterdekliniert werden, dessen Kennzeichen die Grenzüberschreitung ist.
Aber man entwirrt den gordischen Knoten aus Rebellion und Kommunikation,
Kunst und digitaler Euphorie nicht, wenn man seinen Schöpfer zu jemand
verklärt, der "unablässig daran arbeitet, den Kunstbegriff zu erweitern"
(Obrist). Das tut heute jeder Kunstakademie-Absolvent. Und nicht jeder
Netzwerker, Aktionskünstler oder "Giant Provocateur" - so nennt ihn die
amerikanische Kritikerin Karen Smith ganz zu Recht - ist gleich eine
ästhetische Ausnahmeerscheinung.
## "Chinas biggest artist"
Der Aufstieg Ai Weiweis zum globalen Superstar ist eine verquere Mischung
aus westlicher Projektion und politischem Echo im eigenen Land. Im
ästhetischen Kern offenbart sich "Chinas biggest artist" (Art Review)
jedoch als der ewige Wiedergänger einer alten Idee der Avantgarde, wenn er
am 20. Juli 2007 in seinem Blog schreibt: "Die Kunst muss Leben sein,
normales Leben."
Selbst unter diesen Vorzeichen stimmt aber die Rolle des Fackelträgers von
Joseph Beuys "sozialer Skulptur", in die Ai nun gedrängt wird, nur
begrenzt. Denn Aktionen wie die "Bürgeruntersuchung", mit der er den Tod
der Kinder von Sichuan aufzuklären begann, aber auch sein Blog sind aus Not
und Wut geboren. Letzterer ist das faszinierende Dokument eines
paradigmatischen Prozesses politischer Radikalisierung und demokratischer
Selbstermächtigung. In ihm stehen das flammende Plädoyer für Demokratie,
Menschenrechte und Meinungsfreiheit neben existenzialistischen Einsichten:
"Dieses Leben ist alles, was ihr habt, ein besseres bekommt ich nicht", rät
er seinen Landsleuten am 21. Juni 2009.
Trotzdem fehlt diesem visuellen Tagebuch, das zeitweilig bis zu 17
Millionen Leser fand, das Artistische, Spielerische, Modellhafte, mit der
der Schamane vom Niederrhein sein Markenzeichen zelebrierte, der ganze
mythologische Überbau samt Schiefertafel und Kreidediagrammen. Es schmälert
die Bedeutung des politischen Künstler Ai also nicht, wenn man das
Politische und das Ästhetische in seinem Lebenswerk gelegentlich eben doch
trennt.
Dass die Kunst gar ihre Erfüllung im Netz findet und die Zeichnung im Foto
aufgeht, dürfte auch der radikale Anti-Akademist, ästhetische Selfmademan
und Digicam-Enthusiast Ai nicht wirklich glauben. Mag er im Gespräch mit
Obrist auch noch so großspurig behaupten, die Kunst werde "überhaupt keine
Zukunft haben, wenn es ihr nicht gelingt, sich mit den heutigen
Lebensstilen und Technologien zu verbinden." Da klingt Ai Weiwei doch sehr
nach Sascha Lobo. So radikal, wie er hier die Frage nach dem Verhältnis von
Kunst und Technologie aufwirft, spürt man aber die tiefe Leidenschaft, ohne
die keine neue, große Kunst entsteht.
7 Aug 2011
## AUTOREN
Ingo Arend
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