# taz.de -- Fotoausstellung von Ai Weiwei: Manischer Knipser | |
> im Berliner Martin-Gropius-Bau hat eine Fotoausstellung zu der Jugend des | |
> chinesischen Künstlers Ai Weiwei begonnen. Die Fotos zeigen die Ursprünge | |
> seiner jetzigen Kunst. | |
Bild: Unsicherer, junger Künstler, der seinen Weg noch sucht: Ai Weiwei 1983 i… | |
Ein verbogener Kleiderbügel, der auf dem Boden liegt, in das leere | |
Drahtgeviert eine Handvoll Sonnenblumenkerne geschüttet: In der Fotografie, | |
die der damals noch unbekannte chinesische Künstler Ai Weiwei 1983 in New | |
York aufnahm, meint man, eine Vorahnung jener Installation zu sehen, die | |
der weltbekannte Künstler 27 Jahre später in die Turbinenhalle der Tate in | |
London platzieren ließ: Millionen von Sonnenblumenkernen aus | |
handgefertigtem Porzellan - ein spektakuläres Sinnbild für das Verhältnis | |
von Individuum und Masse, ein Tribut an die Heimat China. | |
Wer das Foto von damals genau anschaut, wird bemerken, dass das | |
unscheinbare Drahtgestell die Umrisse des Kopfs von Marcel Duchamp hat - | |
auch ein Künstler, der es in New York zu Weltruhm brachte. Insofern soll | |
man das alte Gelegenheitsfoto wohl auch wie ein Schlüsselbild lesen: In der | |
Neuen Welt fand der Mann, der 1981 eigentlich von Peking ausgezogen war, um | |
ein "neuer Picasso" zu werden, zu seiner wahren Bestimmung: Aus dem Maler | |
wurde ein Konzeptkünstler, der die westliche Formensprache mit östlichen | |
Inhalten füllte. | |
Ais Hang zum Konzeptuellen belegt schon die Ausstellung selbst. Wer die 227 | |
von ihm selbst ausgewählten Fotos betrachtet, fragt sich unwillkürlich: | |
Welche der insgesamt 10.000 Aufnahmen, die der 1957 Geborene in seiner New | |
Yorker Zeit auf- und 1993 mit zurück nach Peking nahm, hat er eigentlich | |
weggelassen? | |
## "Fotografieren ist wie Atmen" | |
Denn der winzige Bruchteil, den er präsentiert, ist eine Inszenierung, die | |
sich als Lehrbuch der Boheme lesen lässt: So wie Ai, seine chinesischen | |
Freunde oder der amerikanische Lyriker Allen Ginsberg damals in den Bars, | |
Diners und U-Bahnhöfen des East Village abhingen, sehen eben Leute aus, die | |
Kunst in erster Linie als "attitude and lifestyle" definieren. Dazu passt, | |
dass auf fast all diesen Schwarzweißbildern die überbordenden Emotionen | |
dieser Gemeinschaft von Außenseitern fehlen: Kaum einer lacht, niemand | |
weint. | |
Ai Weiwei hat die Aufnahmen selbst nie als Kunst betrachtet. "Fotografieren | |
ist wie atmen", erklärte er einmal dem Schweizer Kurator Hans-Ulrich | |
Obrist. Erst Jahre nachdem er nach China zurückgekehrt war, kramte er die | |
Aufnahmen aus den Kartons. | |
In Berlin sehen die Besucher exakt dieselbe Ausstellung, die Ai 2009 für | |
das Three Shadows Photography Art Centre in Peking zusammengestellt hat. | |
War hier auch kein Meisterfotograf am Werk, lassen die Aufnahmen Ais New | |
Yorker Jahre doch nicht ganz so "nutzlos" erscheinen, wie er selbst sie | |
einmal erinnerte. Denn zumindest sind sie ein einzigartiges Zeugnis seiner | |
prägenden Jahre. | |
Gerade hat die Zeitschrift Art Review Ai Weiwei zum mächtigsten Menschen | |
der Kunstwelt gekürt. In den New Yorker Aufnahmen begegnet man dem | |
unsicheren jungen Künstler, der seinen Weg noch sucht. Immer mit ernstem | |
Gesicht steht der schlanke Jüngling mit den dichten schwarzen Haaren in der | |
großen, fremden Stadt: vor den Feuertreppen der baufälligen Häuser an der | |
Lower East Side, im Waschsalon, bei den Schuhputzern im Keller des World | |
Trade Center. | |
## Der Weg vom Privatem zum Öffentlichen | |
Doch schon damals entwickelt er jenen besonderen Hang zur | |
Selbstdarstellung, der ihm heute auch Kritik einträgt: Auf einem Bild von | |
1986 steht der nackte 29-Jährige in seinem Appartement in der East 3rd | |
Street in Manhattan auf einem wackeligen Klappstuhl in Venuspose, die | |
Genitalien zwischen die Beine geklemmt. Auf dem Foto, einem der wenigen, | |
auf denen Ai einmal lächelt, ist er wirklich "arm, aber sexy". | |
New York ist die Stadt, in der Ai Weiwei seine Vorbilder findet. Duchamp | |
gehört dazu, vor allem aber Andy Warhol. Dass Ai sich 1983 vor einem | |
Lebensmittelgeschäft in Williamsburg vor einer Batterie Konservendosen | |
fotografieren lässt, ist mehr eine demonstrative Hommage an den | |
Pop-Artisten als ein Schnappschuss. | |
New York ist aber auch die Stadt, in der Ai den Weg vom Privaten zum | |
Öffentlichen findet. "Peking ist ein immerwährender Albtraum", schrieb er | |
in einem Blog kurz nach seiner Freilassung Ende Juni dieses Jahres im | |
amerikanischen Newsweek Magazine. Doch Gewalt und Rechtlosigkeit, für Ai | |
die Kennzeichen von Peking, hat er auch in New York hautnah miterlebt. | |
Als die Polizei am Tompkins Square die Aufstände gegen die Gentrifizierung | |
der von Alternativen, Hippies und Künstlern bewohnten Lower East Side | |
niederknüppelt, wird Ai zum Chronisten dieser Kämpfe. Sind auf seinen | |
früheren Aufnahmen fast ausschließlich die chinesischen Freunde | |
abgelichtet, sieht man auf den Bildern kurz vor seiner Rückkehr nach Peking | |
nun Obdachlose auf der Straße, Verhaftete mit zurückgeworfenem Kopf, | |
Polizisten mit gezücktem Schlagstock. | |
Wer die lässigen Neureichen in Sommerkleidern betrachtet, die Ai 1993 auf | |
dem wiederhergerichteten Tompkins Square aufgenommen hat, fragt sich, ob | |
der Migrant in New York jemals Freunde fand. Zwischen ihm und den jungen | |
Amerikanern scheint eine unsichtbare Glaswand zu stehen. Immerhin belegen | |
die Aufnahmen, dass er in New York jene "totale Freiheit des Ausdrucks" | |
fand, mit der er den Machthabern in seiner Heimat nun zu gefährlich | |
geworden ist. | |
19 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
Ingo Arend | |
## TAGS | |
Ai Weiwei | |
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