# taz.de -- Integrationspolitik in Frankreich: Die Misere der Roma | |
> Eigentlich wollte Saint-Denis in der Nähe von Paris ein Beispiel für | |
> aktive Integration der Roma geben. Aber der Zentralstaat hat etwas | |
> dagegen und antwortet mit Razzien. | |
Bild: Saint Denis würde gerne mehr für die Roma-Familien tun - die Regierung … | |
SAINT-DENIS taz | Vor einem Jahr hatten sich mehrere Roma-Familien auf | |
einem brachliegenden Baugelände an der Passage Dupont in Saint-Denis | |
nördlich von Paris niedergelassen. Sie waren zuvor aus einer anderen | |
behelfsmäßigen Unterkunft in einem Vorort der französischen Hauptstadt | |
gewaltsam vertrieben worden. | |
Das war eine der ersten konkreten Konsequenzen einer Rede von | |
Staatspräsident Nicolas Sarkozy gewesen, der in Grenoble den Bürgern eine | |
verschärfte Sicherheitspolitik versprach. Keinerlei Nachsicht sollte es | |
künftig für die aus Rumänien und Bulgarien eingereisten Roma-Familien | |
geben, die sich in Lagern und auf besetzten Grundstücken am Stadtrand | |
niedergelassen hatten, ohne irgendwen um Erlaubnis zu fragen. Die oft an | |
Slums erinnernden Camps sollten dem Erdboden gleichgemacht und ihre | |
Bewohner, die Sarkozy trotz ihrer Herkunft aus EU-Staaten mit illegalen | |
Einwanderern gleichstellte, abgeschoben werden. | |
Vor einem Jahr waren die Roma-Familien in dieser Querstraße unweit des | |
Sportpalasts "Stade de France" froh, eine neue Bleibe gefunden zu haben. | |
Die kommunalen Behörden der links regierten Stadt Saint-Denis versprachen | |
einen Wasseranschluss und danach sogar Elektrizität. Die Kinder wurden in | |
der Schule angemeldet. Saint-Denis wollte ein Beispiel dafür liefern, dass | |
anstelle von Repression aktive Integration funktionieren kann. Aus dem Camp | |
mit Möbelstücken unter freiem Himmel ist eine kleine Siedlung geworden mit | |
Holzhütten, die mit Grünpflanzen geschmückt sind, auf den Dächern finden | |
sich Satellitenschüsseln für den Empfang von Fernsehsendern aus östlichen | |
Heimatländern. | |
Doch vom Optimismus des Sommers 2010 ist heute vor Ort nichts mehr zu | |
spüren. Feindlich dreinschauende Erwachsene befehlen den Kindern, nicht mit | |
den neugierigen Fremden zu reden, selber wollen sie auch der ausländischen | |
Presse keine Auskunft geben. Dem Journalisten wird nahegelegt, sich aus dem | |
Staub zu machen, wenn ihm an seinem Fotoapparat liege. | |
Der Grund für diesen Stimmungsumschwung ist verständlich: 59 Mitglieder der | |
Familien haben eine behördliche Aufforderung erhalten, das französische | |
Territorium zu verlassen. Zur Einschüchterung oder zur Vorbereitung von | |
Abschiebungen hat die Polizei Ende April bereits bei einer regelrechten | |
Razzia die Straßen abgesperrt, um die Identität von rund 250 Bewohnern der | |
Bretterbuden zu registrieren. Die Zuständigen von Saint-Denis haben dagegen | |
protestiert. Ihnen ist das repressive Vorgehen des Zentralstaats peinlich. | |
Zwar wollen auch sie, dass die Roma die Passage Dupont verlassen, denn im | |
September sollen hier die seit Langem geplante Überbauung beginnen. | |
## Drei Alternativen | |
Den betroffenen Familien haben sie angeblich drei Alternativen als Ausweg | |
vorgeschlagen. Die Stadtbehörden wollten die Roma weiter unterstützen und | |
ihnen "stabilere Wohnplätze mit besseren hygienischen Bedingungen" | |
anbieten, versicherte der parteilose Vizebürgermeister Denis | |
Bally-Bagayoko. Er ist auch mit Beschwerden von Anwohnern des Wohnviertels | |
Cristino Garcia konfrontiert, die sich wie Pascal auf seinem Blog über die | |
jugendlichen Roma aus der Passage Dupont auslassen, die ihm angeblich | |
seinen Autoradio gestohlen und Sachbeschädigungen an anderen Fahrzeugen | |
verübt hätten. Die Spannungen mit einigen Nachbarn sind reell, die | |
Vorurteile über die "Zigeuner" auch. | |
Wahrscheinlich dachte sich Präsident Sarkozy vor einem Jahr, dass sein | |
Angriff auf diese in Frankreich wenig geschätzten Nomaden ihm einen | |
Popularitätsgewinn ohne Aufwand einbringen würde. Das Vorgehen stieß in | |
Frankreich und in der Europäischen Union auf Kritik, vor allem als in einem | |
Rundschreiben die lokalen Polizeibehörden in offen diskriminierender Weise | |
zum energischen Vorgehen gegen die meist aus Rumänien oder Bulgarien | |
eingereisten Roma angehalten wurden. Nachdem Paris von der zuständigen | |
EU-Kommissarin Viviane Reding deswegen in ungewöhnlich scharfer Weise zur | |
Respektierung der europäischen Direktiven und der Freizügigkeitsregeln | |
innerhalb der Union gemahnt worden war, passte Frankreich zumindest der | |
Form halber diese Weisungen und deren Umsetzung an. Am Willen, die am Rande | |
der städtischen Agglomerationen wie in "Bidonvilles" lebenden Roma | |
auszuweisen, änderte sich damit aber nichts. | |
Laut Innenministerium wurden seit einem Jahr rund drei Viertel der 741 | |
bekannten Lagerstätten geräumt, 2010 wurden 9529 Roma ausgewiesen oder mit | |
einer Heimreise-Prämie zu einer freiwilligen Rückkehr bewogen, im ersten | |
Halbjahr 2011 im selben Rhythmus bereits 4714 Personen, die offiziell als | |
Staatsbürger von Rumänien, Bulgarien, Ungarn und der Slowakei aufgeführt | |
sind. Sie machen ein Drittel der insgesamt ausgewiesenen Ausländer aus. | |
Paradoxerweise hat sich dennoch an der de facto konstanten Zahl von 15.000 | |
in Frankreich lebenden ausländischen Roma überhaupt nichts geändert. | |
Die Erklärung für dieses scheinbare Rätsel liefert Marie-Lisa Fantacci von | |
der Vereinigung Romeurope: "Die Familien, die eine Aufforderung erhalten, | |
das französische Territorium zu verlassen, und dafür finanzielle | |
Unterstützung akzeptieren, kommen regelmäßig zwei oder drei Wochen später | |
zurück." Das wissen auch die französischen Behörden. Um zu vermeiden, dass | |
dieser Anreiz zur offiziell als "humanitäre Heimkehr" bezeichneten | |
Rückschaffung (von Europäern und Nichteuropäern), der 300 Euro pro | |
Erwachsener und 100 Euro für ein Kind beträgt, mehrfach bezogen wird, ist | |
im letzten Herbst ein biometrisches Kontrollsystem eingeführt worden. | |
## Neunmal ausgewiesen | |
Auch die Verantwortliche für die Roma-Aktion beim Hilfswerk Médecins du | |
Monde (MdM), Livia Otal, weiß von Familien, die bis zu neunmal aus | |
Frankreich ausgewiesen wurden. Jeweils gleich wieder zurückgekommen seien | |
sie aber nicht wegen der im Prinzip einmaligen Prämie, sondern weil sie in | |
Frankreich ein besseres Auskommen zu finden glauben. Die Mitarbeiter dieser | |
auf medizinische Unterstützung für Obdachlose spezialisierten Organisation | |
ziehen eine eher bittere Bilanz der vor einem Jahr gestarteten Roma-Politik | |
Frankreichs. | |
"In der Pariser Region ist der Rhythmus der Räumungen unverändert, die | |
Lager sind weniger dauerhaft. Die Lage war zuvor schon dramatisch, | |
hinzugekommen sind nun intensivere Polizeikontrollen, häufigere | |
ungerechtfertigte Festnahmen und eine verschärfte Drangsalierung", beklagt | |
sich Otal im MdM-Bericht. Insgesamt seien die ohnehin schon schwierigen | |
Lebensbedingungen noch prekärer geworden. | |
Vor allem weisen die Ärzte von MdM auf die Folgen der gesellschaftlichen | |
Marginalisierung auf Hygiene und Gesundheit hin: Die Sterblichkeit von | |
Neugeborenen ist bei den Roma neunmal höher als bei anderen Familien in | |
Frankreich, und bei Kindern vor Vollendung des ersten Lebensjahrs fünfmal | |
höher. Alarmierend sei laut Erhebungen in der Hauptstadtregion der zu | |
geringe Anteil der gegen Tuberkulose (nur 42 Prozent) und gegen Masern, | |
Röteln und Mumps (55 Prozent) geimpften Roma. | |
Bei der Veröffentlichung dieser Zahlen wies der MdM-Präsident Dr. Olivier | |
Bernard darauf hin, die Ausweisungsdrohung und die Vertreibungen | |
verhinderten häufig eine kontinuierliche medizinische Betreuung, was die | |
Prävention erschwere. "Die Ausweisungsaktionen sind häufiger und härter. | |
Sie erschweren den Zugang zur medizinischen Pflege, Impfungen, die | |
Betreuung der Schwangerschaften sowie die Einschulung der Kinder", | |
beschwerte sich Dr. Bernard, der als Beispiel auf 450 Roma hinweist, die | |
Mitte Mai aus dem Pariser Vorort Pantin vertrieben wurden, und dies just | |
einen Tag vor einer von der Gesundheitsdirektion des Departements seit | |
Langem programmierten Impfaktion. Nach Ansicht von MdM seien die Roma so | |
etwas wie die "offiziellen Sündenböcke" der französischen | |
Sicherheitspolitik geworden. | |
## Verschärftes Strafrecht | |
Parallel zu den polizeilichen Räumungsaktionen und Ausweisungen hat | |
Frankreich auch ganz spezifisch sein Strafrecht und die | |
Immigrationsgesetzgebung verschärft. "Aggressives Betteln" ist nun ein | |
Delikt, auch ein Missbrauch der Möglichkeit zu Kurzaufenthalten durch | |
EU-Bürger. Vom Verfassungsgericht abgelehnt wurde hingegen das Recht der | |
Polizei, auch ohne Information der Eigentümer die Räumung eines besetzten | |
Grundstücks vorzunehmen. Die Polizei der Region Paris registrierte in den | |
ersten sechs Monaten im Vergleich zum Vorjahr 2010 eine Zunahme der Delikte | |
von "rumänischen Staatsbürgern" um 72,4 Prozent. | |
Laut der Europaparlamentarierin Hélène Flautre (Europe-Ecologie-Les Verts) | |
bleibe Frankreich bei der EU wegen dieser mehr von Repression als von | |
Integration dominierten Roma-Politik "unter Beobachtung". Beim Komitee des | |
Europarats für soziale Rechte, das in der Vergangenheit Frankreich wegen | |
der Roma verurteilt hatte, liegen laut einer Pressemitteilung vom 1. August | |
erneut drei Beschwerden vor. | |
8 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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