# taz.de -- Wallfahrtsort für Sinti und Roma: Marienfigur auf Campingtisch | |
> An diesem Wochenende wird das niedersächsische Eichsfeld zum | |
> Wallfahrtsort für Sinti und Roma. Sie werden einen Kreuzweg gehen und | |
> feiern Gottesdienste. | |
Bild: Mit Bischof Norbert Trelle: Die erste Wallfahrt der Sinti und Roma 2009. | |
GERMERSHAUSEN taz | In der Nacht hat es etwas geregnet. In den | |
Schlaglöchern auf der holprigen Straße, die von der Ortsmitte zur | |
Wallfahrtskirche Mariä Verkündigung führt, steht am Freitagmorgen lehmiges | |
Wasser. Auch die große Wiese hinter der Kirche ist feucht. Wo sonst Pferde | |
grasen, ist am Vortag ein kleines Wallfahrer-Camp von Sinti- und | |
Roma-Familien entstanden. | |
Ein paar Dutzend Wohnwagen sind zu einem Rechteck aufgefahren. Auf einigen | |
Campingtischen in den Vorzelten stehen kleine Marienfiguren oder | |
Gnadenbilder. Etwas abseits gibt es ein großes Zelt für Andachten und | |
Versammlungen, einen Toilettenwagen und eine Feuerstelle für die | |
nächtlichen Gebete und Gesprächsrunden. | |
Das kleine Dorf Germershausen im Landkreis Göttingen ist an diesem | |
Wochenende zum dritten Mal seit 2009 Schauplatz einer Wallfahrt für | |
katholische Sinti und Roma. Der Ort liegt zwischen Hügeln und Feldern in | |
einem katholischen Landstrich, der sich Eichsfeld nennt. Die Teilnehmer der | |
Wallfahrt wollen bis zum Sonntag unter anderem einen Kreuzweg gehen und | |
Gottesdienste feiern. Auch Konzerte und Vorträge sind geplant. | |
Am Freitagabend wurde der Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Thomas | |
Rahe, zu einem Podiumsgespräch über die Religiosität in den | |
nationalsozialistischen Konzentrationslagern in Germershausen erwartet. | |
Logistisch betreut wird die Wallfahrt von den Augustinern, die seit 1864 in | |
dem Ort mit ihrem nördlichsten Kloster in Deutschland vertreten sind. | |
Mit rund 200 ist die Zahl der Sinti und Roma am Freitagvormittag noch | |
überschaubar. Kein Vergleich jedenfalls zu den großen Wallfahrten, die | |
jedes Jahr am ersten Sonntag im Juli nach Germershausen führen. Dann | |
drängen sich jeweils 10.000 bis 15.000 Gläubige auf der Wiese und vor dem | |
Freialtar vor der Kirche. | |
Vor allem Sinti-Familien aus Norddeutschland sind mit ihren Gespannen | |
gekommen, einige auch aus Nordrhein-Westfalen, andere sind aus den | |
Niederlanden zu der "Bedevaart" angereist. Familie Engelbert ist aus | |
Bremerhaven und Stade angereist. "Wir sind mit fast 40 Personen hier", sagt | |
Ilona Engelbert. "Eine Wallfahrt ist doch was sehr Schönes, da muss man | |
unbedingt hin". Früher mussten die Sinti und Roma zu solchen | |
Veranstaltungen immer nach Holland oder Frankreich fahren. | |
Wie viele Sinti und Roma im Verlauf des Wochenendes noch nach Germershausen | |
kommen, weiß auch Wolfgang Patzelt nicht. "Wir führen hier keine Listen und | |
haben auch keine Anmeldefristen", sagt der katholische Geistliche, der im | |
Bistum Hildesheim seit nunmehr sieben Jahren Ansprechpartner für die Sinti | |
und Roma ist. "Zigeunerpfarrer", nennen sie ihn. Patzelt begreift das | |
keineswegs als Schimpfwort. | |
Knapp 100.000 Sinti und Roma leben nach Schätzungen der Gesellschaft für | |
bedrohte Völker als deutsche Staatsbürger in der Bundesrepublik. Dazu | |
kommen noch mehrere zehntausend Flüchtlinge vor allem aus den | |
Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die meisten deutschen Sinti und Roma seien | |
katholischen Glaubens, sagt Wolfgang Patzelt. | |
"Die katholische Kirche hat sich aber lange kaum um die religiösen | |
Bedürfnisse dieser Volksgruppe gekümmert", sagt Patzelt. Die Folge: Ein | |
"schrecklicher Befall von Sekten aus Amerika" habe sich eingestellt. Auf | |
dem Vormarsch unter den Sinti seien etwa evangelikale Sekten wie die etwa | |
die Pfingstler. | |
In der Vergangenheit sei den Sinti und Roma viel Unrecht geschehen, auch | |
heute würden sie noch oft benachteiligt, etliche lebten von Hartz IV, | |
Kinder kämen in der Schule nicht zurecht. "Dabei", so Patzelt, "ist das ein | |
Kulturvolk. Dass so viele nicht lesen und schreiben können, liegt daran, | |
dass sie von der Gesellschaft vernachlässigt wurden." | |
Die offiziellen Gedenkfeiern für die Opfer der Verbrechen der | |
Nationalsozialisten an den Sinti und Roma seien kein Ersatz für ein | |
gleichberechtigtes Leben, meint Patzelt. Aus seiner Sicht ist die Wallfahrt | |
auch ein soziales Ereignis, sie führe zu Begegnungen und Austausch zwischen | |
Gläubigen, die sich sonst vielleicht nie getroffen hätten. | |
Am Donnerstagabend, am Lagerfeuer, haben sie über das Mahnmal für die von | |
den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma diskutiert. 1992 vom | |
Bundestag beschlossen, geriet der Bau nach Querelen zwischen Bund und Land | |
Berlin sowie dem Berliner Senat und dem beauftragten Künstler ins Stocken. | |
Dann gab es Streit um die Inschrift. Nun soll es fertiggestellt werden. | |
Statt einer Inschrift sollen Gedenktafeln an den Massenmord erinnern. | |
Die Nazis brachten während ihrer Herrschaft rund eine halbe Millionen | |
"Zigeuner" um. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Staat Ende der 1970er-Jahre | |
unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) die Verbrechen an | |
den Sinti und Roma als Völkermord anerkannte. 1988 gab es den ersten | |
Gedenkgottesdienst zum NS-Völkermord an Sinti und Roma in Speyer. Seit Mai | |
1995 sind die Sinti und Roma als nationale Minderheit mit eigener Sprache | |
anerkannt. | |
Junge Männer tragen am Mittag eine aus Holz geschnitzte Marienstatue um die | |
Kirche. Daneben trippeln Kinder, die zuvor mit Messgewändern aus dem | |
Gemeindefundus ausgestattet wurden. Angeführt wird die Prozession von einer | |
sechsköpfigen Sinti-Band mit zwei Geigern, zwei Gitarristen, einem | |
Akkordeon- und einem Kontrabassspieler. | |
Die Hälfte der Kirchenplätze ist bereits mit Einwohnern von Germershausen | |
oder einem der umliegenden Dörfer besetzt. "Wir haben für die Teilnahme an | |
der Wallfahrt geworben und wir hoffen, dass in den nächsten Tagen viele | |
Leute kommen", erzählt Bürgermeister Reinhard Scharf (CDU). Vorbehalte oder | |
gar Vorurteile gegen Sinti und Roma gebe es in seiner Gemeinde jedenfalls | |
nicht, versichert er. | |
Auch "Zigeuner-Pfarrer" Patzelt will weitere Menschen aus der Region für | |
die Wallfahrt gewinnen, die gemeinsam mit den Sinti und Roma beten, | |
sprechen und auch feiern können. "Das hat bisher schon ganz gut | |
funktioniert", sagt Patzelt, "ist aber noch ausbaufähig." | |
Ein Bekenntnis zum christlichen Glauben sei dabei keine Voraussetzung für | |
einen Besuch in Germershausen. "Zu allen Terminen sind uns Gäste | |
willkommen", sagt er. "Ganz speziell am Samstagabend, wenn am Lagerfeuer | |
gegessen, getrunken und musiziert wird." | |
22 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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