# taz.de -- taz-Serie Berliner Bezirke (11): Spandau: Die Kehrseite der Gentrif… | |
> In den Hochhaussiedlungen von Spandau landen immer mehr Menschen, die | |
> sich die Innenstadt nicht mehr leisten können. Darunter leidet der | |
> Bezirkshaushalt. | |
Bild: Eine der schönsten Sozialsiedlungen Spandaus: die Siemensstadt-Bauten vo… | |
Irgendwann tauchen rechts der Heerstraße vier Hochhäuser auf. Eine gefühlte | |
Ewigkeit ist es her, dass der Bus die Stößenbrücke überquert hat, die | |
Spandau von Charlottenburg trennt. Der Verkehr rauscht sechsspurig vorbei | |
an einer endlosen Reihe von Wohnblöcken. Die blau, grün, orange und gelb | |
gestrichenen Türme, um die sich Einkaufszentrum, Ärztehaus und | |
Gemeinwesenzentrum gruppieren, sind das Herz des Wohngebiets Heerstraße im | |
Spandauer Stadtteil Staaken. Als die Siedlung Ende der 60er Jahre für rund | |
17.000 Bewohner errichtet wurde, war sie beliebt bei Familien. Damals waren | |
"moderne" Schlafstädte am grünen Stadtrand der letzte Schrei. Heute sind | |
die meisten, die es sich leisten können, längst wieder weggezogen. Dafür | |
kommen seit einiger Zeit offenbar neue Bewohner: die | |
Gentrifizierungsverlierer. | |
Seit in Berlin über die Aufwertung begehrter Stadtteile und deren Folgen | |
diskutiert wird, steht eine Frage unbeantwortet im Raum: Was passiert mit | |
den Menschen, für die Kreuzberg, Friedrichshain, Mitte und sogar das lange | |
verschriene Neukölln zu teuer geworden sind? Schon länger wurde vermutet, | |
dass sie in die Hochhaussiedlungen am Stadtrand verdrängt werden. Dorthin, | |
wo der Leerstand hoch, die Nachfrage gering, der Preis entsprechend niedrig | |
ist: nach Marzahn, Reinickendorf und Spandau. Bisher war dies allerdings | |
bloße Vermutung. | |
Dann aber trat vor einigen Wochen der Spandauer Sozialstadtrat Martin Matz | |
(SPD) mit Zahlen vor die Presse, die belegen, dass Spandau tatsächlich | |
einen Zuzug von ärmeren Menschen zu verzeichnen hat: Zwischen Februar 2010 | |
und Februar 2011 zogen 809 Jobcenter-"Kunden" mehr in den Westbezirk als | |
diesen verließen. Von den Zuzüglern kamen 161 aus dem benachbarten | |
Charlottenburg-Wilmersdorf, 218 aus Mitte und 117 aus Neukölln. 2007/2008 | |
hatte das Spandauer Jobcenter nur eine Netto-Zunahme von 484 "Kunden" aus | |
anderen Bezirken. Der Netto-Zuzug von Hartz-IV-Beziehern nach Spandau ist | |
zwar kein Massenphänomen, aber messbar. | |
Das hat auch Petra Sperling beobachtet, Geschäftsführerin des | |
Gemeinwesenvereins Heerstraße Nord. Der Verein hat seine Beratungsstelle | |
hinter dem orangenen Turm, neben der Evangelischen Kirchengemeinde. Neue | |
Mieter, erzählt Sperling, kommen früher oder später immer hier vorbei. Der | |
Verein hilft Menschen bei Jobcenterbescheiden, unterstützt sie bei | |
Bewerbungen, gibt den Berlin-Pass aus. Zumindest gefühlt haben Sperlings | |
MitarbeiterInnen immer mehr "Menschen aus Kreuzberg" in der Beratung, auch | |
wenn sie das in Zahlen noch nicht belegen können. Denn eine Statistik, | |
woher ihre Klienten kommen, führen sie erst seit einem Monat - "nachdem das | |
Thema jetzt aufgekommen ist". | |
Sperling betont, "dass wir alle willkommen heißen". Schließlich standen | |
hier jahrelang viele Wohnungen leer. Andererseits: Wenn bald noch mehr | |
problembeladene Menschen in die ohnehin schwierige Siedlung ziehen, die | |
nicht ohne Grund seit 2005 ein Quartiersmanagement hat, dann, so Sperling, | |
"wird es schwierig, zumal Spandau ohnehin sehr verschuldet ist". | |
Denn der Zuzug von Hartz-IV-Empfängern belastet den Spandauer | |
Bezirkshaushalt bereits. Zum einen, erklärt Sozialstadtrat Matz, steigen | |
die Unterkunftskosten - dieses Jahr um zwei Millionen auf 106 Millionen | |
Euro. Dies sei allerdings kein Problem für den Bezirk, da das Land die | |
Wohnkosten für Hartz-IV-Empfänger zu 100 Prozent bislang erstatte. Zum | |
anderen aber steigen auch die Kosten des Bezirks für die sogenannten Hilfen | |
zur Erziehung (HzE) - also Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe für | |
Familien wie Beratung, Familienhelfer, Therapien, betreutes Wohnen, Heime: | |
30 Millionen Euro waren für dieses Jahr kalkuliert, 33,5 Millionen werden | |
es am Ende wohl sein. Und auch wenn Hartz-IV-Empfänger nicht zwangsläufig | |
identisch sind mit Menschen, die HzE benötigen, wie der Spandauer | |
SPD-Bezirksbürgermeisterkandidat Helmut Kleebank erklärt, so "gibt es doch | |
eine Korrelation zwischen HzE und Hartz IV". Zwar gibt es auch andere | |
Gründe, warum der Spandauer Jugendhilfeetat aus den Fugen geraten ist - das | |
betont Sozialstadtrat Matz, der die Wanderung von HzE-Fällen nicht für | |
relevant für die Haushaltsprobleme hält. Andere Politiker im Bezirk wie | |
Kleebank, sein CDU-Rivale, Baustadtrat Carsten Rödung, sowie Angelika Höhne | |
von den Spandauer Grünen sind sich jedoch einig, dass eine der Ursachen der | |
Zuzug von Hartz-IV-Empfängern ist. | |
Was also ist zu tun? Zum einen, sagt Kleebank, "muss eine höhere | |
Bedarfsgerechtigkeit in den Bezirkshaushalten hergestellt werden". Sprich: | |
Wenn im gentrifizierten Kreuzberg weniger Geld für HzE ausgegeben wird, wie | |
der dortige SPD-Finanzstadtrat Jan Stöß sagt, muss dort auch weniger Geld | |
hinfließen als etwa nach Spandau, wo die Fallzahlen steigen. Zum anderen, | |
ergänzt Röding, müssen die aufnehmenden Kieze vorbereitet werden - etwa | |
durch den Ausbau von Förderprogrammen wie dem Quartiersmanagement. Und das | |
Land müsse versuchen, "die Eigentümer bei Neuvermietung stärker in die | |
Pflicht zu nehmen", damit diese stärker auf eine "soziale Durchmischung" | |
der Wohnblöcke achten. Und keine Hartz-IV-Armutsinseln entstehen. | |
Denn genau das sei das eigentliche Problem, sagt Sozialstadtrat Matz - die | |
Kehrseite der "positiven Entwicklung für Kreuzberg": Dort, wohin die | |
verdrängten Menschen ziehen, etwa nach Heerstraße Nord, "wo ohnehin 50 bis | |
60 Prozent Hartz IV beziehen, ballen sich die Probleme". Das sieht auch | |
Petra Sperling vom Gemeinwesenverein. Ihr machen vor allem die vielen | |
Hartz-IV-Kinder und -Jugendlichen Sorgen: "Sie sagen selbst, dass sie keine | |
Zukunft haben." Zwar gibt es für sie in Heerstraße Nord diverse Angebote im | |
Rahmen des Quartiersmanagements: vom preisgekrönten Schultheaterprojekt | |
"Schatzsuche" über "Job Activ", eine Selbsthilfeförderung bei Bewerbung, | |
Ausbildung und Arbeit bis zum interkulturellen Zentrum "Gemischtes" im | |
ehemaligen Penny-Supermarkt. Doch Jobs oder Ausbildungsplätze kann auch das | |
QM nicht herbeizaubern. | |
Und noch etwas, gibt Sperling zu, kann Heerstraße Nord seinen neuen | |
Bewohnern nicht bieten: "Es fehlt einfach an urbanem Flair." Hier gibt es | |
keinen "Türkenmarkt", keine Straßencafés, Kinos oder Antiquariate. Sperling | |
seufzt: "Wenn man von Kreuzberg hierher kommt, hat man es schon erst mal | |
schwer." | |
8 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Susanne Gannott | |
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