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# taz.de -- Winehouse, Charlotte Roche & der Exzess: Unsere tägliche Überdosis
> Der Tod von Amy Winehouse und das neue Buch von Charlotte Roche,
> "Schoßgebete", definieren geradezu gegensätzliche Modelle des Begriffs
> Exzess.
Bild: Amy Winehouse betätigte noch einmal das ganze klassische Repertoire von …
Man denkt, manche Sachen bleiben immer gleich. Etwa der Exzess. Exzess ist
immer Exzess. Und dann wird man belehrt, dass das gar nicht stimmt. Dann
zeigt einem das zufällige, rein zeitliche Zusammenfallen zweier ganz
unterschiedlicher Dinge, wie verschieden das sein kann, so ein Exzess.
Die beiden Ereignisse, von denen ich spreche, sind der Tod von Amy
Winehouse und das neue Buch von Charlotte Roche, "Schoßgebete". Die haben
jetzt auf Anhieb nichts miteinander zu tun - außer das eine: Sie zeigen
geradezu gegensätzliche Modelle von Exzess.
Amy Winehouse betätigte noch einmal das ganze klassische Repertoire von
Überschreitung: Freiheit, Rausch, Intensität. All das findet sich nur
jenseits des Alltags. Exzess ist nur dort, wo er Gegensatz zur Normalität
ist. Freiheit besteht in der Überschreitung von Beschränkungen. Rausch ist
das Andere der Vernunft. Intensität gibt es nur, wenn man Regulierungen
hinter sich lässt. Zu diesem Ausnahmezustand gelangt man nicht einfach
durch Steigerung. Das Versprechen dieser Art von Exzess lautet: Wenn man
die Dosis radikal erhöht, dann schlägt die Quantität in eine neue
Lebensqualität um.
"Leben in der Überdosis" hat Thomas Groß seinen Nachruf auf Amy Winehouse
genannt. Hat sie nur die alten Rock-n-Roll-Werte reaktiviert oder auch ein
viel älteres Bild des Künstlers? Gab es diese Auseinandersetzung nicht
schon zwischen Van Gogh und seinem Bruder - eine Auseinandersetzung
zwischen banaler Alltagsrealität und höherer, stärkerer, intensiverer
Lebensform, zwischen dionysischem Rausch und apollinischem Maßhalten? In
jedem Fall aber ist dieses Modell von Exzess überholt. Denn jede Zeit hat
ihren Exzess und das ist nicht mehr der unsere. Amy Winehouse hat ein
überkommenes Muster noch einmal bis zum tragischen Ende durchgespielt. Sie
ist gewissermaßen an einer veralteten Vorstellung von Exzess gestorben.
## Überschreitung im Alltag
Charlotte Roche - man mag zu den Qualitäten ihres Buches stehen, wie man
will, dies hier ist keine Literaturkritik -, Charlotte Roche aber kommt das
Verdienst zu, das Bild einer anderen Art von Exzess entworfen zu haben.
Entscheidend dabei ist nicht, dass Roche das Thema ausschließlich an der
Sexualität abhandelt. Auch wenn sich diese seit der sexuellen Revolution
als wesentlicher Bestandteil der Identität durchgesetzt hat. Entscheidend
ist vielmehr, dass Exzess und Normalität kein Gegensatz mehr sein sollen.
Die zeitgemäße Form heißt: Überschreitung im Alltag.
Heute geht es darum, das Dionysische und das Apollinische, Rausch und Form,
zusammenzubringen. Kurzum - es geht um den Exzess in der Ehe. Unsere
Aufgabe lautet: "Das Dionysische mit einer kontinuierlichen Lebensweise in
Einklang zu bringen", so hat das Charles Taylor ausgerechnet in einer
Studie zur Säkularisierung formuliert. Unser Exzess ist also auch unser
Dilemma. Denn wie ist der Rausch in den Alltag integrierbar? Wie lässt sich
das Sinnliche, als Überschießendes, im Rahmen einer fortwährenden Beziehung
halten?
Roche versucht ein Szenario zu entwickeln, das diese Widersprüche vereinen
soll: Eherettung im Bordell. Aber das zeigt wohl eher das Dilemma als einen
Ausweg. Tatsächlich enden die meisten heute eher beim Sexualtherapeuten,
wie der unglaubliche Erfolg dieser Spezies bescheinigt, allen voran der
amerikanische Eheguru mit dem programmatischen Namen Schnarch. Denn dieser
verspricht, ganz zeitgemäß, nicht nur die Erfüllung in der Ehe, er entwirft
vielmehr die Ehe als einzigen Ort der wahren Leidenschaft.
Das mag stimmen oder nicht. Therapeuten aber braucht es in jedem Fall, denn
dieser Imperativ, die Forderung dieses Exzesses übt einen unglaublichen und
letztlich uneinlösbaren Druck auf jeden aus - vor allem aber auf die
Frauen. Die sollen treu und aufregend, stetig und wandelbar, alles
gleichzeitig sein. Wir müssen nicht mehr die Norm, wir müssen die Norm und
ihre Überschreitung erfüllen. Das ist unsere tägliche Überdosis. Ist das
nun emanzipatorisch oder nicht? Befreiung oder neuer Zwang? Das sind die
Fragen, denen sich der Feminismus heute stellen muss.
22 Aug 2011
## AUTOREN
Isolde Charim
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