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# taz.de -- Bildungspolitik der Union: Letzte Bastion Hauptschule
> Bildungsministerin Schavan propagiert den Abschied von der Hauptschule.
> Konservativen Christdemokraten geht das zu weit, der Basis nicht.
Bild: Steht unter konservativem Schutz: Hauptschule in Arnsberg (Sauerland).
Wenn es in diesen Tagen eine typische Geste der Bundesbildungsministerin
gibt, dann diese: Als ein Kreisverbandschef nach dem anderen ans
Saalmikrofon tritt und Fragen zur Bildungsreform stellt, legt Annette
Schavan Zeige- und Mittelfinger einer Hand ans Kinn. Ich höre euch zu,
signalisiert sie. Schavan tut das häufig an diesem Montagabend im Hamburger
Congress Center.
Schavan hat eine schwere Aufgabe vor sich. Jahrzehntelang hielt die CDU das
dreigliedrige Schulsystem hoch: Gymnasium, Real- und Hauptschule. Jetzt
soll sie der Basis erklären, warum zukünftig zwei Schulen reichen, warum
die Hauptschule wertlos ist, warum sich Real- und Hauptschule zu einer
Oberschule zusammenlegen lassen. Der Bundesvorstand hat ein Papier zur
Bildungspolitik der nächsten zehn Jahre geschrieben, es soll ein großer
Wurf sein.
Auf den 31 Seiten, die ein Parteitag im November abnicken soll, stehen
viele Ziele. Ein verpflichtendes Kitajahr für alle Kinder etwa, oder eine
bessere Lehrerausbildung. Doch nur an der Hauptschule entzündete sich in
den vergangenen Wochen ein heftiger Streit.
## Kritik im Süden
Die schärfsten Kritiker sitzen im Süden, sie zählen sich zum konservativen
Flügel der CDU. Ministerpräsident Volker Bouffier motzte in Hessen: "Eine
Partei, die ihr Selbstverständnis vom christlichen Menschenbild herleitet,
muss für die Vielfalt von Bildungsangeboten stehen und kann nicht alle
Kinder in eine Schulform stecken."
Baden-Württembergs Landeschef Strobl wetterte: "Die Schlagzeile ,Bundes-CDU
schafft die Hauptschule ab' ist eine Katastrophe." Nach Zumutungen wie der
Bundeswehrreform, dem Abschied von der Atomkraft und der Schuldenkrise in
Europa ist die Demontage des dreigliedrigen Systems, das früh vermeintlich
gute Kinder von vermeintlich schlechten Kindern trennt, eine Zumutung zu
viel für manche CDUler.
Die Kritiker haben keine Argumente, es geht um ein Gefühl. Ausgerechnet die
Hauptschule wird zur letzten Bastion der Konservativen. Die Bundeskanzlerin
schaltete sich ein, um die Aufregung herunterzudimmen. Es werde "nicht ein
Ja oder Nein zur Hauptschule geben", betonte Angela Merkel. Schavan soll
die Befürchtungen in der Basis zerstreuen. Die Parteispitze hat vier
Bildungskonferenzen in ganz Deutschland geplant, jeder
Ortsverbandsfunktionär soll mitreden.
## Realitätsnahe Volkspartei
Die Ministerin steht in einem Saal mit getäfelten Wänden, rötlich-grünem
Teppich und niedriger Decke, in dem 150 CDU-Funktionäre warten - die Damen
tragen Perlenohrringe und Kostüm, einzelne Herren sind im Kapitänslook da.
"Man sollte unser Papier nicht auf eine einzige Strukturfrage reduzieren",
sagt Schavan zur Kritik ihrer Parteikollegen. "Das wird dem Thema nicht
gerecht."
Sie hat die Fakten auf ihrer Seite. Viele Eltern akzeptierten die
Hauptschule nicht mehr. Die Kinder bleiben aus, auch weil es bis 2020 1,8
Millionen Schüler weniger geben wird. In Großstädten gibt es Hauptschulen,
in denen 90 Prozent einen Migrationshintergrund haben. "Eine Volkspartei
kann an solchen Fragen nicht vorbeigehen", sagt Schavan beschwörend auf dem
Podium und lehnt sich im Sessel vor. Neben ihr sitzen CDU-Generalsekretär
Hermann Gröhe und Sachsens Kultusminister Roland Wöller. Bei diesen Sätzen
bleibt es still. Applaus gibt es erst, als Schavan betont, dass die CDU
nach wie vor gegen die Einheitsschule ist. Auch etwas Selbstvergewisserung
tut gut.
Das Irrwitzige ist, dass Schavan von den Konservativen wegen eines längst
fälligen Realitätsabgleichs verprügelt wird. Mit dem Schwenk vollzieht die
Bundespartei, was ihre Bürgermeister in Kommunen im ganzen Land seit Jahren
praktizieren. Weil sie andernfalls ihre Hauptschule im Ort wegen
Schülermangels schließen müssten, entscheiden sie sich lieber für eine
Gemeinschaftsschule.
## "Schulpolitik für das Gros der Menschen"
Arthur Christiansen, Chef der 10.000-Einwohner-Gemeinde Handewitt in
Schleswig-Holstein, zeigt Weitblick. Schon seit 2007 lässt er die örtliche
Hauptschule auslaufen. Jetzt besuchen Grund-, Haupt-, Real- und
Förderschüler eine Gemeinschaftsschule von der ersten bis zur zehnten
Klasse. "Wir machen Schulpolitik für das Gros der Menschen", sagt
Christiansen schlicht. "Nicht für jene, die ihre Kinder schon seit
Generationen auf's altsprachliche Gymnasium schicken."
Das Konzept geht auf: Die Anmeldezahlen steigen von Jahr zu Jahr, bald will
die Gemeinde eine gymnasiale Oberstufe beantragen. Christiansen zählt die
Vorteile auf: "Diese Schule passt zum Schüler, produziert weniger Verlierer
und ermöglichst ein längeres gemeinsames Lernen." Christiansen ist kein
Einzelkämpfer. Viele CDU-Bürgermeister dächten wie er, selbst CSUler, die
auf Podien offiziell noch die Hauptschule verteidigten, sagt er.
Bernhard Bitter ist stellvertretender Bürgermeister in Lippetal, einer
18.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen. Die CDU stellt dort die
absolute Mehrheit im Rat. Auch in Lippetal werden in diesem Jahr die ersten
Schüler in eine örtliche Gemeinschaftsschule eingeschult. Sie lernen bis
zur siebten Klasse gemeinsam und können nach Klasse 13 auch das Abitur
machen. "Das pädagogische Konzept passte genau zu Lippetal", sagt Bitter.
Die Anmeldungen für die Hauptschule seien noch zufriedenstellend gewesen.
Aber als die Gemeinde eine Schule vorstellte, die alle Abschlüsse
einschließlich des Abis anbot, stimmten 85 Prozent der Eltern für den
Abschied vom gegliederten Schulsystem vor Ort.
## Zustimmung im Nord
Ihre Bürgermeister sind also viel weiter als die CDU selbst, die Kinder
weiter nach der Grundschule trennen will. "Wir haben viel zu lange ein
System verteidigt, das Menschen in Schulkasten einteilt und Biografien von
Berechtigungsscheinen abhängig macht", ist das Fazit des Handewitter
Bürgermeisters Christiansen. "Das können wir uns nicht mehr leisten."
Auch im Hamburger Tagungsraum stört sich kaum einer am Verschwinden der
Hauptschule. Es sind Funktionäre aus den fünf nördlichen Bundesländern, aus
eher liberalen Landesverbänden. In Hamburg, Bremen und
Mecklenburg-Vorpommern gibt es neben dem Gymnasium sowieso nur noch eine
Schule und ihre eigenen Kinder gehen eh aufs Gymnasium. "Der Drops ist
gelutscht. Das ist hier keine ideologische Frage mehr", sagt eine
Hamburgerin.
Norbert Wichmann, braungebrannt, rundlich, Kreisverband Eimsbüttel, stellt
die einzige Frage dazu. Wie denn die neue Oberschule den verschiedenen
Niveaus der ehemaligen Haupt- und Realschüler gerecht werde? Es sei ja oft
so, dass Schüler, die im Unterricht nicht mitkämen, die anderen stören -
und sei es nur, um den Lehrer auf sich aufmerksam zu machen, sagt er
später. Als Kritik will er dies aber nicht verstanden wissen, und eine
Antwort bekommt er auch nicht. "Wahrscheinlich, weil sie es nicht wussten."
## Belehrung statt Gespräch
Wichmann ist nicht der Einzige, der ratlos zurückbleibt. Schavan und ihre
Mitdiskutanten antworten nicht auf die Fragen der Parteimitglieder, die
sich um Lehrpläne oder Klassenräume sorgen oder darum, dass Deutsch durch
Englischunterricht vernachlässigt wird.
Für das Wichtigste bleibt keine Zeit, weil dem Moderator die Zeit wegrennt
- das Basisgespräch wird zur Belehrung. Schavan redet wie in einer
Vorlesung. In druckreifen Sätzen, als würde sie ihre Argumente in einen
Setzkasten sortieren, solche wie: "Es ist ein Gebot der Klugheit,
aufmerksam gegenüber jüngeren Generationen zu sein." Oder: "Das Wohl des
Kindes steht im Vordergrund, nicht irgendwelche theoretischen Papiere."
Ihr viertelstündiges Schlusswort dauert gefühlt doppelt so lang, sie
schlägt den Bogen vom Theologen Friedrich Schleiermacher bis zum
Bildungsraum Europa. Viele Zuhörer starren in die Luft, am Ende räumen sie
fast fluchtartig den Saal.
Zwei Hamburgerinnen ärgern sich später im Foyer über ihre Partei, eine von
ihnen ist Grundschullehrerin. "Da muss man komplizierte Sachen mit
einfachen Worten erklären", sagt sie. "Die CDU muss eine andere Ansprache
für die Menschen finden." Die andere ergänzt: "Ich bin gespannt, was die
Partei aus all den Anregungen zur Bildungspolitik macht. Mir reicht nicht,
mich auskotzen zu können, ich will mitentscheiden."
24 Aug 2011
## AUTOREN
Anna Lehmann
Ulrich Schulte
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