# taz.de -- Ein Jahr "Deutschland schafft sich ab": Trunkenheit am Stift | |
> Es ist gut, dass Thilo Sarrazin vor einem Jahr "Deutschland schafft sich | |
> ab" veröffentlichte. Das Buch ließ den Diskurs über Migration endlich | |
> erwachsen werden. | |
Bild: Attitüde der mürrischen Ärmelschonerhaftigkeit: Thilo Sarrazin. | |
Heute vor exakt einem Jahr erschien jene Schrift, die zum erfolgreichsten | |
nichtliterarischen Buch des vergangenen Jahrzehnts werden sollte: Thilo | |
Sarrazins "Deutschland schafft sich ab". Bereits vor dem Erstverkaufstag | |
waren 25.000 Exemplare dieser vielhundertseitigen Schrift vorbestellt und | |
bezahlt worden; ihr Autor wird Verlagsschätzungen zufolge eine | |
Millionengage errungen haben, wobei der DVA-Verlag sich über die genaue | |
Höhe der verkauften Auflage ausschweigt, sie sollen sich aber aktuell in | |
knapp siebenstelliger Höhe bewegen. | |
Was das Buch des vor einem Jahr noch als Bundesbankvorstand tätigen Mannes | |
aber von allen Diskursbeiträgen zu Einwanderern in Deutschland unterschied, | |
war eine Allianz aus medialer Unterstützung. Kurz gesagt: Bild und Spiegel | |
druckten Passagen vorab; keine Talkshow, die auf sich hielt, wollte dieses | |
Thema übersehen. Jedes Medium war oder fühlte sich gezwungen, bei diesem | |
öffentlichen Gespräch mitzumachen - mehr oder weniger erhitzt. | |
Auffällig, guckt man zumindest versuchsweise auf die zwölf Monate | |
Sarrazin-Debattenlage zurück, sind zwei Entwicklungen: Anfänglich lebte die | |
Aufregung über das Buch von mehr oder weniger starker Zustimmung. Einer | |
musste es ja sagen! Hat er nicht recht? Ist es nicht so, wie er schreibt? | |
Als dann endlich wenigstens einige Menschen die Lektüre hinter sich | |
gebracht hatten, etwa Redakteure der FAZ, der SZ oder der taz - was eine | |
irre Leistung schon deshalb war, weil sich "Deutschland schafft sich ab" in | |
etwa so gut lesen lässt wie das Telefonbuch von Peking -, wendete sich das | |
Blatt: Sarrazins Thesen entpuppten sich angesichts ihrer Entwirrung als | |
halbgar, pseudowissenschaftlich, halbseiden und, Fakt für Fakt, als | |
zusammenhanglos aufgeschrieben. Er wollte offenbar nur herausfinden, was | |
ihn keine Neugier haben ließ: Er wusste, dass er Türken und Araber | |
irgendwie nicht mochte. | |
So brach die zweite Phase der Sarrazin-Rezeption an: Man begann ihn | |
gründlich zu widerlegen. Das mit dem Intelligenzgen, das den muslimischen | |
Migranten fehle, wurde mithilfe von Intelligenzforschern widerlegt; auch | |
die Zahlen, was Geburtenrate und ökonomische Effizienz anbetrifft, erwiesen | |
sich als falsch gewertet. | |
## Zahlenfetischistischer Paranoiker | |
Eine gründliche Übersicht zur Sarrazin-Debattenlage findet sich auf | |
Wikipedia unter dem Stichwort des Buchtitels selbst, alle wesentlichen und | |
fundierten Gegenthesen zu diesem Autor sind dort fein aufgelistet. Im | |
Grunde erkennt man am Ende dieser 36 Seiten des Onlinelexikons nur das | |
eine: Thilo Sarrazin muss als zahlenfetischistischer Paranoiker gedacht | |
werden. Einer, der Ziffern und Zahlen so sehr liebt, dass er an ihnen | |
trunken wurde und sich dann in ihnen verlor. | |
Darüber hinaus hatte sich aufgrund dieser stofflichen Auseinandersetzungen | |
mit dem Buch auch die atmosphärische Lage verändert: Sarrazin schien | |
plötzlich ein Held der unterdrückten, politisch inkorrekten Meinung gewesen | |
zu sein - aber er bewirkte eher, dass sich nun alle deutsche Welt mit den | |
neuen Migranten beschäftigte. Und die meldeten sich heftiger denn je zu | |
Wort: auch als Migranten, vor allem aber als neue Bürger, als neue | |
Deutsche, die sich von einem wie Sarrazin nicht erzählen lassen wollten, | |
wie sie seien - und wie sie nicht sind oder gesehen werden sollen. | |
So ist eventuell längst die dritte Phase der Debatte angebrochen: die der | |
Eroberung der öffentlichen Räume des Sprechens durch die neuen BürgerInnen | |
selbst. Die nicht mehr behandelt und beurteilt werden wollen, sondern | |
selbst handeln und urteilen. Denn das scheint doch auch ein Effekt der | |
ersten Sarrazin-Aufregung gewesen zu sein: wie erstaunlich unhöflich, | |
patzig und fern von guten bürgerlichen Manieren einer wie Sarrazin doch | |
operierte. Wie unverschämt eigentlich seine ganze Attitüde empfunden werden | |
muss - die der etwas mürrischen Ärmelschonerhaftigkeit, hinter der nichts | |
als ein Charakter verfolgender Unschuld hervorlugt. | |
Es war gut, dass Sarrazin schrieb, was er schrieb - auf dieser papiernen | |
Basis hat sich gut streiten lassen. Und das wird auch weiter so sein. Die | |
Debatte geht weiter. Sarrazin und seine Freunde wissen doch genau: Niemand | |
von jenen, die sie nicht mögen, wird gehen. Sie sind da. Sie sind Deutsche. | |
Es sind Millionen. Und sie sind das neue Deutschland. Eine Einsicht, der | |
sich auch ein Sarrazin nur um den Preis der Realitätsverleugnung stellen | |
muss. | |
30 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
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