# taz.de -- Großprotest gegen Verdrängung: Die Wutmieter kommen | |
> Bürgerinitiativen wollen mit einer Großdemonstration gegen steigende | |
> Mieten protestieren. In den Kiezen am Rande der Strecke geht die Angst | |
> vor Verdrängung um - und nicht nur dort. | |
Bild: Damit ging's los: Anti-Mediaspree-Protest 2010 vorm Roten Rathaus. | |
Sie haben Schilder ins Schöneberger Rathaus mitgebracht, Fred Skroblin, der | |
Anwalt, und Hannah Wiesniewski, die Bibliothekarin. Selbst ausgedruckt, DIN | |
A4. "Gegen die Vernichtung bezahlbaren Wohnraums". "Stoppt den | |
Bebauungsplan". Doch die Bezirkspolitiker im Parlamentssaal reden über | |
Parkverbotszonen, Schwimmbadlifte und "Schleppkurven für Lkw". Eine Stunde, | |
zwei, drei. | |
Es ist die Beschlussvorlage 1874/XVIII, auf die Skroblin und Wiesniewski | |
warten. Die zu ihrem Haus in der Schöneberger Barbarossastraße 59/60. Ein | |
baufälliger Fünfstöcker. Ein Investor will ihn abreißen, für einen Neubau. | |
"Einen Luxusbau", schimpft Wiesniewski. 200 Euro warm zahle sie heute für | |
ihre Einzimmerwohnung, sagt die zierliche Frau mit der rosa Strickweste. | |
"Mehr hab ich nicht." | |
Von 107 Wohnungen seien nur noch 12 bewohnt, berichtet Skroblin, grauer | |
Anzug, rote Krawatte. "Alle anderen haben sie erfolgreich entmietet." | |
Neulich hätten sie aus den leeren Wohnungen die Heizkörper rausgerissen, um | |
sie nach Polen zu verkaufen. "Das wird jetzt richtig ausgeweidet." | |
Um 21 Uhr, nach vier Stunden, ist es so weit. Vorlage 1874/XVIII. Kurze | |
Diskussion, Abstimmung. 36 zu acht Stimmen für den neuen Bebauungsplan. Es | |
ist das Ende der heutigen Barbarossastraße 59/60. Eine Minutensache. Fünf | |
Jahren wohnt Skroblin im Haus, neun Jahre Wiesniewski. "War ja nicht anders | |
zu erwarten", schüttelt Skroblin den Kopf. Aber man kämpfe weiter, | |
juristisch. | |
Die Barborassastraße ist kein Einzelfall mehr. In vielen Innenstadtkiezen | |
kämpfen Berliner gegen steigende Mieten und Kündigungen. Im Graefekiez, | |
Chamissokiez, Schillerkiez, im Fanny-Hensel-, Reuter- und Karl-Kunger-Kiez, | |
am Klausenerplatz, in der Lehrter Straße. An diesem Samstag wollen sich die | |
Wutmieter zusammentun: zu einer großen Demonstration durch Neukölln und | |
Kreuzberg. Ihr Motto: "Steigende Mieten stoppen - damit noch was zum Leben | |
bleibt". Auftakt für eine neue Bewegung, eine Berliner Mieterbewegung? | |
Die Grundlagen wären gelegt: Um 8 Prozent stiegen die Mieten laut | |
Mietspiegel seit 2009, Neuvermietungen nicht inbegriffen. Laut | |
Statistischem Landesamt gibt der Berliner inzwischen ein Drittel seines | |
Einkommens für Miete aus. Schon der Erfolg des Volksentscheids zu den | |
Wasserverträgen zeigt: Wenns ans Geld geht, wandelt sich auch privater | |
Unmut in Protest. | |
Dabei ist nicht neu, dass Mieter Konflikte gegen ihre Vermieter ausfechten. | |
Neu ist, dass sich diese Konflikte in die Öffentlichkeit verlagern. Dass | |
Nachbarschaftstreffen organisiert, Hoffeste gefeiert, Unterschriften | |
gesammelt werden. Nicht nur in Friedrichshain oder Kreuzberg. | |
Neu ist auch, dass urbaner Protest nicht mehr nur Partydemos gegen | |
Mediaspree heißt. Der Widerstand ist breiter geworden. Ernster, | |
existenzieller. Im Graefekiez kämpfen auch Mittelschichtler gegen | |
Kündigungen. Am Weichselplatz wehren sich Mieter gegen teure energetische | |
Sanierung. Und in der Barbarossastraße protestieren die, die ohnehin kaum | |
Einkommen haben. | |
Es ist ein unbequemer Protest. Weil er sich nicht mit dem Credo des Senats | |
in Einklang bringen lässt, es gebe genügend Wohnraum. Weil er zeigt, wie | |
weit selbst der "Versteher"-Bürgermeister von den Sorgen eines wachsenden | |
Teils der Einwohner entfernt ist. "Arm, aber sexy", das war einmal. Heute | |
heißt es: Wer Aufschwung will, muss auch steigende Mieten akzeptieren. | |
Jörn Schulte und Luise Horn stehen am Mittwochnachmittag an der Neuköllner | |
Karl-Marx-Straße neben einer großen Bühne, auf der gleich Klaus Wowereit | |
stehen soll. Ein Wahlkampfauftritt, einer von vielen in diesen Tagen. | |
Schulte und Horn können damit nichts anfangen. Seit Monaten bereiten die | |
beiden die Demo am Samstag mit vor. Seit Jahren engagieren sie sich | |
politisch, stadtpolitisch. Ihre richtigen Namen wollen sie nicht sagen. | |
Von Friedrichshain habe sie nach Neukölln ziehen müssen, erzählt Horn, | |
kurze Haare, Kapuzenjacke. Auch hier werde bereits ein Wertgutachten zu | |
ihrem Haus eingeholt. Im Schillerkiez engagiert sich die 26-jährige | |
Studentin in einer Stadtteilgruppe. Verteilt Fragebögen, wo gerade die | |
Miete steigt. Schulte, lange, gebundene Haare, knackt Sonnenblumenkerne. | |
"Aufwertung ist eine Kampfansage", sagt der 46-Jährige von einer | |
Kiezinitiative in Alt-Treptow. "Jeder soll da leben können, wo er oder sie | |
will, egal mit wie viel Kohle." | |
Schulte genießt es, kein einsamer Rufer mehr zu sein. Seit Jahren | |
kultiviert die linke Szene den Kampfbegriff der Gentrifizierung: gegen eine | |
Stadtentwicklung nach Profiten, gegen die Verdrängung Armer. Allein, bisher | |
fanden dies kaum Widerhall außerhalb der eigenen Szene. | |
"Es hat sich was verschoben", sagt Luise Horn. Immer mehr Anwohner kämen in | |
die Mietberatungen der Kiezinitiativen. Auch Rentner, Mittelschichtler. | |
Nachbarn ihrer WG hätten kürzlich Handwerkern nicht geöffnet, als diese zu | |
Sanierungsarbeiten anrückten. Wer alles zur Demo am Samstag komme? Horn | |
zuckt mit den Schultern. "Das hat sich längst verselbstständigt." | |
Klaus Wowereit betritt die Bühne. Zwischen SPD-Luftballons ragen nun auch | |
"Die verdammte Miete ist zu hoch"-Wimpel hervor. Wowereit zeigt auf einen: | |
"Es gibt noch 100.000 leer stehende Wohnungen." Aber bei Ein- und | |
Zweiraumwohnungen habe sich die Lage verschärft. "Da müssen wir | |
gegensteuern." | |
Das hört man plötzlich oft. "Mieter vor Wild-West schützen", plakatiert die | |
Linke."Bezahlbarer Wohnraum. Da müssen wir ran", heißt es bei den Grünen. | |
Das Thema ist omnipräsent. "Weil sie merken, dass der Druck der Straße | |
steigt", glaubt Jörn Schulte. Man verstehe sich klar als | |
außerparlamentarische Bewegung. Die Grünen? "Unsozial, Vertreter der | |
Besserverdiener." Die Linke? In zehn Jahren nichts für Mieter getan. "Wir | |
vertrauen keiner Vertretung mehr." Auch juristisch schütze Mieter nur noch | |
wenig. "Wir suchen nach Antworten jenseits des Braven und Angepassten, | |
damit niemand aus seiner Wohnung muss." Parteifahnen sind auf der | |
Mietendemo unerwünscht. Wer will, kann bereits beantragte Stimmzettel | |
mitbringen. Zum Ungültigmachen. | |
Das Potenzial für eine größere stadtpolitische Bewegung sei da, sagt Simon | |
Teune, Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Der | |
Wohnungsmarkt sei angespannt wie lange nicht, vor allem für | |
Einkommensschwache. Die Parteien ließen gänzlich ungeklärt, welche Rolle | |
sozial schwächere Milieus in der Stadt spielen sollen, so Teune. "Dass die | |
Initiativen auf außerparlamentarischen Druck setzen, ist da nur | |
konsequent." | |
In der Barbarossastraße war anfangs noch Vertrauen da. Als immer mehr | |
Kündigungen hereinflatterten, sammelte Hannah Wiesniewski 2.000 | |
Unterschriften, organisierte ein Solifest. Fred Skroblin schrieb Briefe, | |
traf Politiker. Am Mittwoch im Rathaus wirkt Wiesniewski aufgelöst, fahrig. | |
Außer Linken und Grünen haben sich alle Parteien für einen Neubau, ein | |
"attraktiveres" Haus ausgesprochen. "Die sehen gar nicht mehr den | |
Menschen", sagt Wiesniewski. | |
EInmal im Monat bietet Skroblin kostenlose Rechtsberatung an, in | |
Charlottenburg. Um Autounfälle sei es früher gegangen, erzählt der Anwalt. | |
Seit Jahresanfang gehe es vor allem um Wohnungen. "Wenn immer mehr Leute | |
betroffen sind, ist doch zwangsläufig, dass sie sich irgendwann gemeinsam | |
wehren." | |
2 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
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