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# taz.de -- Proteste: Das bewegte Jahr
> Nie zuvor wurde so viel demonstriert wie 2011. Dank Rot-Schwarz gibts
> wohl noch mehr Protest. Vier Bewegungen, die 2011 prägten, und ihre
> Chancen 2012 .
Bild: Occupy in Berlin - wenn es so weiter geht, gibt es im Camp bald mehr Mask…
So viel Protest war nie: 4.048 Demonstrationen wurden in diesem Jahr bei
der Polizei angemeldet - deutlich mehr als in den Vorjahren. 2010 gingen
die Berliner 2.734 Mal auf die Straße, vor fünf Jahren waren es 2.260
Versammlungen. In diesem Jahr nun fast eine Verdoppelung: Damit kann 2011
mit Fug und Recht als Jahr des Widerstands verbucht werden.
Demonstriert wurde für ein Knut-Denkmal und gegen arabische Diktatoren,
Sluts walkten für sexuelle Selbstbestimmung, Autos fuhren im Korso gegen
Rassismus. "Die Bürger haben wieder das Gefühl, mit Protest etwas bewirken
zu können", sagt Simon Teune, Protestforscher am Wissenschaftszentrum
Berlin (WZB). Auch weil ihre Aktionen anders als früher wohlwollend von
Medien begleitet würden.
Für Roland Roth, Politikwissenschaftler aus Berlin, hat sich eine neue
kritische Bürgerschaft etabliert. "Die Gesellschaft ist gebildeter,
selbstbewusster geworden. Dass die Menschen an politischen Entscheidungen
nicht beteiligt werden, nehmen sie nicht mehr hin." Bei den Flugrouten-
oder Mietenprotesten hätten sich viele Bürger mit angeeignetem
Expertenwissen gleiche Augenhöhe zu den Politikern verschafft. Für Heike
Walk, Politikwissenschaftlerin an der TU, ist dies die Errungenschaft des
Protestjahrs: "Das Verlangen nach echter Bürgerbeteiligung kann niemand
mehr abtun."
Für 2012 prognostizieren die Experten noch mehr Widerstand. Der neue Senat
stehe eher nicht für Transparenz und Bürgerbeteiligung, bemerkt Roth. "Die
Konflikte dürften härter werden." Auch WZB-Mann Teune glaubt an einen
Protestaufschwung unter Rot-Schwarz. Zum Widerstands-Highlight könne der
Ausbau der A 100 avancieren. "Hier treffen Interessen von Umweltschützern
und Anwohnern zusammen, und das in den protestaffinen Stadtteilen Kreuzberg
und Friedrichshain." Gelinge es den Protestlern, erfolgreich die
Kostenkarte zu spielen - der Bau wäre der teuerste Autobahnabschnitt
Deutschlands -, könne die A 100 auch unter Rot-Schwarz noch scheitern.
## Der Flugroutenprotest: die Hartnäckigen
Sie waren die Ersten. Schon Ende 2010 demonstrierten im Berliner Südwesten
Anwohner gegen den erwarteten Fluglärm am Neu-Flughafen Schönefeld. 2011
wuchs der Protest auf 30 Aktionsgruppen und regelmäßige Montagsdemos an. Am
Ende wurde auch im Südosten demonstriert, 25.000 Anwohner und Leander
Haußmann umzingelten den Müggelsee. Gutbürgerlicher
"Not-in-my-backyard"-Protest mit klarer Forderung - und Erfolg: Über Monate
beriet die Fluglärmkommission. Am Ende legte sie nochmal deutlich geänderte
Flugrouten vor.
Was kommt: Im Januar will das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung
endgültig über die Routen entscheiden, am 3. Juni 2012 eröffnet der
Großflughafen Schönefeld. Was daraus folgt, darüber streiten die Gelehrten.
Heike Walk geht davon aus, dass die Proteste mit der Eröffnung abebben
werden. Anders Roland Roth: Noch sei der Fluglärm fiktiv. "Dann aber werden
auch die protestieren, die bisher noch gar nicht ahnen, dass sie betroffen
sind. Das kann sich über Jahre hinziehen." Und schon jetzt haben die
Flugrouten-Gegner erfolgreich ein Volksbegehren gegen Nachtflüge auf den
Weg gebracht, Ende Mai kommenden Jahres soll die zweite Stufe beginnen.
## Der Anti-Atom-Widerstand: die Größten
Mehr als 100.000 Menschen forderten im März den sofortigen Ausstieg aus der
Atomkraft, kurz nachdem in Fukushima ein Reaktor explodiert war - größer
war Anti-Atom-Protest in Berlin nie. Das Kanzleramt wurde mit Mahnwachen
belagert, das Lobbytreffen des Atomforums umzingelt. Eine Kleindemo führte
gar zu Berlins einzigem AKW, dem Forschungsreaktor in Wannsee, seit 53
Jahren (fast) unbeachtet. Der Widerstand wird zum Revival: Die Alten holen
versonnen ihre Parkas aus den Schränken, die Jungen organisieren
Stromwechselpartys. Am Ende steht einer der größten Bewegungserfolge der
Republik: Schwarz-Gelb beschließt den Atomausstieg bis 2022.
Was kommt: Wohl nicht mehr so viel. Die ganz großen Protestscharen werden
sich nach dem Ausstieg nicht mehr locken lassen. Dafür geht der Blick ins
Ausland: Mit Petitionen wird schon gegen AKW-Neubaupläne in Polen
protestiert. Auch nach Fukushima hätten die Menschen zuvörderst für die
Japaner, nicht für sich demonstriert, so Heike Walk. "Der Bewegung geht es
ungewöhnlich stark um Allgemeininteressen." Walk schreibt den
Atom-Widerstand noch nicht ab. Im Jahr 2011 habe gezeigt, wie schnell er
sich bei Bedarf aktivieren lasse.
## Die Wutmieter: die Unberechenbaren
Kurz vor der Abgeordnetenhauswahl im September taten sie sich zusammen:
5.000 Berliner demonstrierten für bezahlbare Mieten und gegen Verdrängung.
Schon zuvor hatten sich Mietergruppen gebildet: in Kreuzberg und Neukölln,
aber auch am Klausenerplatz in Charlottenburg. Gentrifizierung - für viele
wurde das Abstraktum 2011 erstmalig spürbar. Im November übergaben die
Initiativen den rot-schwarzen Koalitionären ein "mietenpolitisches Dossier"
mit der Forderung, regulierend aktiv zu werden. Für 2012 planen die
Protestler einen "Mietengipfel". Und wenn alles nichts hilft eine "Welle
zivilen Ungehorsams".
Was kommt: Hier sind sich die Experten einig: Eine große Mietenbewegung,
das wird richtig schwer. "Es hat sich immer wieder gezeigt, dass bei
sozialen Themen die Betroffenengruppen wenig protestgeneigt sind", so
Roland Roth. Auch beim Thema Mieten suchten viele individuelle Lösungen,
zudem schaffe die Gentrifizierung auch Nutznießer. Simon Teune erwartet
dennoch Protest, da sich die Wohnungsnot verschärfen werde: "Der neue Senat
hat nicht erkennen lassen, dass er die Mietenfrage ernsthaft lösen will
oder kann. Die Mieten werden 2012 ein Top-Thema bleiben."
## Occupy: die Neuen
Ihnen fliegen die Herzen zu - nur mitmachen wollen immer weniger. Nach
erfolglosen Camp-Versuchen auf dem Alex war die Bewegung am 15. Oktober
plötzlich da: 8.000 Menschen zogen vor den Bundestag, forderten "echte
Demokratie", empörten sich über die Macht der Märkte und Reichen. Viele
waren seit Jahren nicht auf der Straße gewesen, andere noch nie. Die
Polizei verhinderte ein Camp vorm Parlament, besetzt wurde dann am
Bundespressestrand. Mehr als 100 Berliner Institutionen und
Persönlichkeiten unterstützen die Bewegung, vom Grips Theater bis Nina
Hagen. Die Berliner wissen heute zwar, was eine Assamblea ist. Die
Anfangseuphorie ist dennoch verflogen. Im Camp ist man nur noch zu zehnt.
Und immer noch diskutieren die Occupies, welche Forderungen sie stellen
wollen, in aller Ruhe.
Was kommt: Ungewiss. Die Engagierten fokussieren sich nun auf ihren
weltweiten Aktionstag am 15. Januar. Roland Roth ist skeptisch: Den
Aktivisten fehle eine gemeinsame Agenda. "Alternative
Globalisierungsproteste gibts in Berlin seit 25 Jahren. Nennenswert wird
Occupy aber erst, wenn mehr Menschen die Folgen der Krise unmittelbar
spüren." Heike Walk sieht in Occupy noch Potenzial - als Jugendbewegung.
Die Jungen träfe die Spaltung der Gesellschaft besonders hart:
Endlospraktika, Bezahlstudium, Arbeitslosigkeit. "Wenn sich das zuspitzt,
kann aus Occupy etwas Generationstiftendes werden."
31 Dec 2011
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Schwerpunkt Finanzkrise
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Occupy-Bewegung
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