# taz.de -- 68. Filmfestspiele Venedig: Zu viel Charisma | |
> Zwischen Kalkül, gut gemeinter Fingerübung und Goldkantenkino: neue Filme | |
> von Steve McQueen, Marjani Satrapi und Jonathan Demme. | |
Bild: "Shame"-Regisseur Steve McQueen und sein Schauspieler Michael Fassbender. | |
Der erste regnerische Tag drückt aufs Gemüt. Oder ist es der Wettbewerb, | |
der gerade ein wenig vor sich hindümpelt? Der britische Regisseur, | |
Videokünstler und Turner-Preisträger Steve McQueen stellt seinen zweiten | |
Spielfilm "Shame" vor, nach seinem Debüt "Hunger" (2008) habe ich mir davon | |
einiges versprochen. Michael Fassbender, eben noch als Analytiker C. G. | |
Jung in David Cronenbergs "A Dangerous Method" zu sehen, spielt hier einen | |
potenziellen Analysanden, nämlich einen sexsüchtigen Mann im New York der | |
Gegenwart. Es gelingt diesem Mann, seine Sucht so in seinen Alltag zu | |
integrieren, dass sie nicht weiter auffällt. | |
Doch das Gleichgewicht aus Devianz und Angepasstheit gerät durcheinander, | |
als seine labile Schwester bei ihm einzieht. "Shame" schaut aus wie eine | |
weichgespülte Version von Bret Easton Ellis Roman "American Psycho"; der | |
Film sehnt sich danach, so virtuos mit Oberflächen umzugehen wie Ellis, | |
stellt sich dabei aber eher unbeholfen an. Die Effekte - etwa der Umstand, | |
dass man mehrmals Fassbenders Geschlecht sieht, oder eine lang andauernde, | |
mit ihrer Stellungsvielfalt protzende Sexszene gegen Ende des Films - | |
bergen so viel Kalkül, dass sie weniger schockieren (oder erregen) als | |
verdrießen. | |
Marjani Satrapi und Vincent Paronnaud aus Frankreich haben genauso wenig | |
Glück. 2007 verfilmten sie "Persepolis", Satrapis gleichnamigen Comic über | |
eine junge Iranerin zu Zeiten der Revolution. Auch dem neuen Film "Poulet | |
aux prunes" ("Huhn mit Pflaumen") liegt ein Comic Satrapis zugrunde; | |
erzählt wird eine märchenhaft umflorte, tragische Liebesgeschichte aus dem | |
Teheran des Jahres 1958. Europäische SchauspielerInnen wie Mathieu Amalric, | |
Isabella Rossellini oder Chiara Mastroianni bewegen sich durch eine | |
Kulissenstadt; so bieder und eskapistisch schaut das aus, dass man den | |
Eindruck gewinnt, seit 1958 habe im Kino niemand mehr Staub gewischt. Wenn | |
man zum ersten Mal ein Close-Up von Mathieu Amalric in der Rolle des | |
traurigen Violinisten Nasser Ali Khan sieht, scheint der Schauspieler | |
Selbstbräunungscreme aufgetragen zu haben, damit er als iranische Figur | |
überzeugt: Blackfacing im europäischen Goldkantenkino. | |
In buchstäblichem Sinne erbaulicher ist Jonathan Demmes Dokumentation "Im | |
Carloyn Parker: The Good, the Mad and the Beautiful" in der Nebenreihe | |
Orizzonti. Parker ist eine knapp 60 Jahre alte Afroamerikanerin aus New | |
Orleans, der es dank ihrer Hartnäckigkeit gelingt, ihr Haus im Lower 9th | |
Ward wiederaufzubauen, in einem Viertel mithin, das im September 2005 | |
besonders stark unter "Katrina" litt und das im Anschluss an die | |
Flutkatastrophe von den Behörden besonders stark vernachlässigt wurde. | |
Demmes Film ist eine Langzeitbeobachtung, wobei der Regisseur nicht allzu | |
viel Zeit mit seinen Protagonisten verbringt. Von 2006 bis 2010 reist er | |
immer mal wieder nach New Orleans, besucht Parker für ein paar Tage und | |
kommt Monate später zurück. Deshalb entgehen ihm entscheidende Wendepunkte, | |
etwa der Betrug durch einen zunächst so vertrauenswürdig wirkenden | |
Bauunternehmer, was ihn wiederum in die Situation bringt, sich ganz und gar | |
auf die Schilderungen seiner Protagonistin verlassen zu müssen. | |
Die ist überaus charismatisch, smart, tief in ihrer Community verwurzelt | |
und voller Humor. Doch ihre Ausstrahlung ist für den Film nicht nur ein | |
Segen, sie ist auch ein Fluch. Zwar hält das Charisma Parkers die etwas | |
disparate Szenenfolge zusammen, zugleich ist es zu groß, als dass neben der | |
Protagonistin noch etwas anderes - eine andere Figur, ein anderer | |
Standpunkt, eine andere Sichtweise - bestehen könnte. "Im Carloyn Parker: | |
The Good, the Mad and the Beautiful" kommt deshalb an die epische Dimension | |
nicht heran, die Spike Lees mehrstündiger, wütender Film "When the Levees | |
Broke" (2006) oder die HBO-Serie "Treme" hatten. Demmes Film hat eher etwas | |
von einer Fingerübung mit besten Absichten. | |
5 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Steve McQueen | |
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