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# taz.de -- 68. Filmfestspiele Venedig: Den Sitz der Seele suchen
> Papstbier, Papstkräutertee und Papstmuffins: Romuald Karmakar folgt dem
> Papst nach Bayern, der russische Regisseur Alexander Sokurov Goethes
> "Faust". Kühn sind beide.
Bild: Die Menschen in Marktl wissen den Papst zu vermarkten.
Es geschieht selten, dass man als Festivalbesucher einen Star sieht. Bei
Pressekonferenzen sicherlich, aber auf der Straße? So gut wie nie. In der
Nacht zu Donnerstag passierts dann doch: Willem Dafoe kommt mir entgegen,
gegen 1 Uhr vor dem Casino, von seiner Entourage umgeben. Ich gucke ihn
kurz an, nehme die ausgeprägten Falten in seinen Augenwinkeln wahr, und weg
ist er.
Spektakulärer als die nächtliche Starsichtung ist, was auf der Leinwand
passiert. Der russische Regisseur Alexander Sokurov zeigt seine Version von
Goethes "Faust" im Wettbewerb - wenn dieser Film ohne Preis ausgehen
sollte, bin ich der Jury ernsthaft böse. Das schreibe ich nicht aus
Patriotismus - deutsche Schauspieler, unter ihnen Hanna Schygulla, treten
in "Faust" auf -, sondern weil ich eine so kühne, freie, verstiegene
Adaption des Stoffs noch nicht gesehen habe. Allein der Anfang: Die Kamera
gleitet über eine Modelllandschaft aus Bergen und Meer, sie nähert sich
einer Stadt, Schnitt, Close-up auf ein nicht gleich zu erkennendes,
schrumpeliges Körperteil.
Nach ein paar Sekunden begreift man: Es ist ein Penis, und noch ein wenig
später: Der Penis gehört einem Toten, der seziert wird. Ein Hautlappen
klappt Richtung Kamera, bevor die sich ein wenig zurückzieht, sodass man
mehr von der Szene sieht. Faust (Johannes Zeiler) und sein Schüler Wagner
(Georg Friedrich) wuseln um die Leiche herum und debattieren über die
Frage, wo die Seele ihren Sitz haben könnte. Im Kopf? Im Herzen? Oder doch
eher in den Füßen, weil die zu kribbeln beginnen, sobald man starke Gefühle
verspürt?
Wie Sokurov die Bewegungen der Figuren im Raum orchestriert, wie er die
Dialoge hin- und herschießen lässt, wie er die Proportionen verzerrt und
die Farbigkeit der Welt ins Graugrüne verschiebt, ist toll. Das Szenenbild
besteht aus Winkeln, Fluren, Treppen, Felsspalten, aus lauter
unüberschaubaren Orten, in denen sich wiederum die Figuren
aneinanderreiben, aufeinanderschieben. Es ist, als hätte Sokurov viele
Texte Kafkas gelesen und sich in dessen spezifische Komik der
unwillkürlichen Gesten und vergeblichen Bemühungen verguckt. Einmal etwa
sucht Mephistopheles in einem riesigen Haufen Plunder nach einer Schatulle,
er steckt tief in diesem Bau drin, Faust liegt obendrauf, bevor er durch
einen Spalt in den Haufen hineingleitet. Das ist eine seltsam amorphe
Fantasie, ein Traum, den man Nacht für Nacht träumt, ohne ihn je bewusst zu
erinnern. Großartig.
Und es gibt noch mehr soul searching aus deutscher Produktion. Romuald
Karmakar stellt in der Nebenreihe Orizzonti seine neue Dokumentation "Die
Herde des Herrn" vor, die er im April 2005 in Rom und in Marktl, dem
Geburtsort von Papst Benedikt XVI., gedreht und erst jetzt montiert hat.
Der erste Teil erkundet, wie die Menschen in dem bayerischen Ort auf die
Papstwahl reagieren. Sie wissen sie zu vermarkten, indem sie Papstbier,
Papsttorten, Papstkräutertee und Papstmuffins zum Verkauf anbieten. Eine
Prozession stürmt im Marschtempo auf Marktl zu und betet dabei zur Mutter
Gottes, das hat etwas von katholischer Loveparade. In Rom, dem Schauplatz
des zweiten Teils, versammeln sich ein paar Tage zuvor Gläubige aus aller
Welt, um von Papst Johannes Paul II. Abschied zu nehmen. Diesen Massen und
ihrer Verzückung, ihrer Ekstase, ihrem Singen und Beten und Genervtsein,
wenn der Marsch Richtung Petersplatz seit Stunden stockt, gilt Karmakars
offener Blick.
9 Sep 2011
## AUTOREN
Cristina Nord
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