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# taz.de -- NS-Geschichte: Ein Denkmal für die Judenretter
> Arno Lustiger hat mit "Rettungswiderstand" die erste große Untersuchung
> über die Helfer verfolgter Juden in Europa während der Nazi-Herrschaft
> vorgelegt.
Bild: Hat mehrere Konzentrationslager überlebt: Arno Lustiger.
Am 9. September 1943 befahl der Ortskommandeur der von den Deutschen
besetzten griechischen Insel Zakynthos dem Bürgermeister Loukas Karrer, ihm
eine Liste aller 275 jüdischen Bewohner der Insel zu übergeben. Es ging um
die Vorbereitung der Deportation in die Vernichtungslager. Doch anstatt die
Nazis zu unterstützen, händigte der Bürgermeister der Besatzungsmacht eine
ganz kurze Liste aus. Auf ihr standen nur zwei Namen: sein eigener und der
des Erzbischofs Chrysostomos. Karrer erklärte zugleich, dass sich alle
Bewohner Zakynthos' einer Deportation der Juden widersetzen. Kein einziger
der Juden von Zakynthos wurde ein Opfer des Holocaust. Die Juden wurden von
christlichen Bauern in den Bergen versteckt.
Dies ist eine von hunderten Geschichten, die in Arno Lustigers Buch
"Rettungswiderstand" festgehalten sind. Der Titel ist ein von Lustiger
selbst geprägter Begriff, der die Hilfe für von der Ermordung bedrohte
Juden während des Nationalsozialismus treffend umschreibt. Lustiger, 1924
in Polen geboren, hat selbst das Martyrium von Buchenwald und Auschwitz
überlebt. Einige seiner Verwandten verdanken ihr Überleben dem
Rettungswiderstand.
Dass es sich bei dieser Rettung überhaupt um Widerstand handelt, ist in
Deutschland - Ost wie West - Jahrzehnte lang ignoriert worden. Nur wenige
Helfer erhielten eine Ehrung oder eine kleine Rente ausgezahlt. Erst in
jüngerer Zeit haben Historiker den Rettungswiderstand als das
charakterisiert, was er ist: die Verweigerung der Teilnahme an einem
rassenideologischen Vernichtungskrieg, so Wolfram Wette im Vorwort von
Lustigers Buch.
Inzwischen widmen sich eine ganze Reihe von Forschungsinstituten dem Thema,
an allererster Stelle die israelische Gedenkstätte Jad Vaschem, aber auch
die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, die eine eigene
Dauerausstellung zu der Thematik präsentiert und deren Mitarbeiterin Beate
Kosmala zu den KoautorInnen des Buchs gehört.
## Mehr als das Verstecken von Menschen
Lustigers Verdienst ist es, zum ersten Mal die verschiedenen Formen des
Rettungswiderstands zu thematisieren, über Deutschland hinaus die
unterschiedlichen Beispiele für die Hilfe für Juden in den besetzten, den
neutralen und den alliierten Staaten vorzustellen. Rettungswiderstand, das
wird deutlich, ist mehr als das Verstecken einzelner Menschen oder ganzer
Familien durch mutige Nichtjuden. Mehr als das systematische Fälschen von
Papieren, die Organisierung von Lebensmitteln oder die Hilfe von
Mithäftlingen in Konzentrationslagern.
Dazu gehört auch - so Lustiger - die geheime Informationsarbeit von Eduard
Schulze. Der Industrielle und spätere "Wehrwirtschaftsführer" zählte 1933
zu den Teilnehmern eines Treffen von 27 Wirtschaftsbossen mit Adolf Hitler,
bei dem es um die Unterstützung der neuen Reichsregierung durch die
Industrie ging. Doch Schulte wechselte die Seiten, ließ sich zum Agenten
für die Alliierten anwerben und versorgte ab 1942 Hitlers Kriegsgegner mit
Informationen über den Massenmord an den Juden. Er berichtete in der
neutralen Schweiz, dass Heinrich Himmler ein KZ in einem Ort namens
Auschwitz besucht hätte. Er erzählte von den Plänen der Nazis, Millionen
Juden durch deren Deportation in den Osten zu ermorden. Doch niemand wollte
ihm glauben, und heute ist die Geschichte dieses Manns nur wenigen
Fachhistorikern bekannt.
Schulte ist zugleich ein Beispiel dafür, dass sich der Rettungswiderstand
nicht auf antifaschistische Heldensagen reduzieren lässt. Denn es halfen
eben nicht nur gestandene Nazigegner. Jenseits des politischen Widerstands
unterstützten ganz normale und vermeintlich unpolitische Hausfrauen,
Sekretärinnen, Prostituierte und Wehrmachtsoldaten die vom Tod bedrohten
Juden.
## Sieg der Menschlichkeit
Unter den Helfern befanden sich spanische Diplomaten, russische Partisanen,
Priester und Erzbischöfe, der Bruder Hermann Görings und der Ölindustrielle
Berthold Beitz. Und selbst bei gestandenen Nazis siegte in seltenen Fällen
die Menschlichkeit über die Ideologie der Vernichtung - etwa bei dem
SS-Oberscharführer Erwin Dold, der als Lagerkommandant dafür Sorge trug,
dass die Häftlinge nicht "durch Arbeit vernichtet" wurden. Sehr häufig war
es die direkte Konfrontation mit dem Schicksal Verfolgter, die eine
spontane Hilfe zur Folge hatte. Und oft wussten die Retter zu Beginn gar
nicht, auf was sie sich da einließen und welchen Gefahren sie sich
unterwarfen.
Lustiger würdigt auch Helfer, denen von der israelischen Gedenkstätte Jad
Vaschem bis heute keine Ehrung zuteilwird: Juden selbst. Verfolgte halfen
in vielen Fällen ihren Schicksalsgenossen, auch wenn dies ein weiteres
Risiko barg. Man könnte meinen, diese seien die einzigen Menschen gewesen,
denen sich die Verfolgten ohne Risiko offenbaren konnten. Doch die Gestapo
hatte vorgesorgt: In Berlin wurden Juden zu Spitzeldiensten erpresst, um
die untergetauchten "U-Boote" zu enttarnen.
Insofern entziehen sich die Helfer, wie Lustiger konstatiert, oft einer
soziologischen Einordnung. Ob diese allerdings nun alle, wie er schreibt,
von altruistischen Motiven geleitet waren, bleibt dennoch zweifelhaft.
Nicht alle Retter halfen unentgeltlich. Geld, Waren und sexuelle
Dienstleistungen wurden verlangt und gegeben. Nur sehr wenig ist bis heute
darüber bekannt.
## Retter als Minderheit
Lustiger verweist auf die unterschiedlichen Bedingungen, denen der
Rettungswiderstand unterlag. In Deutschland waren die Retter eine winzige
Minderheit, nicht nur bedroht von den Repressionsorganen des Regimes,
sondern auch von den ganz normalen "Volksgenossen", deren
Denunziationsberichten viele Juden zum Opfer fielen.
Vielen Helfern drohte im Inland bei ihrer Entdeckung die Einweisung in
Konzentrationslager, nicht aber die Todesstrafe, wie sie in vielen der
besetzten Ländern automatisch vorgesehen war. Dort konnten sich die Helfer
aber wiederum auf eine mit ihnen sympathisierende Bevölkerung verlassen -
so weit nicht, wie in manchen osteuropäischen Staaten, der traditionelle
Antisemitismus dafür sorgte, dass Hilfe für Juden auf Unverständnis und
Ablehnung stieß.
Diese unterschiedlichen Bedingungen für den Rettungswiderstand werden
freilich bisweilen nur angedeutet. Welchen unfassbaren Schwierigkeiten die
Hilfe in den besetzten Teilen der Sowjetunion unterlag, wo Millionen
Menschen umstandslos niedergemetzelt wurden, wird zwar deutlich. Auch warum
es in Belgien gelang, über 33.000 Juden vor dem Holocaust zu retten, legt
Lustiger überzeugend dar. Warum aber fielen in den benachbarten
Niederlanden 76 Prozent aller Juden - die höchste Zahl in Westeuropa - der
Mordmaschinerie der Nazis zum Opfer? Die Rahmenbedingungen für die Hilfe
für Juden in den besetzten Staaten bedürfen zweifellos noch einer
eingehenden Untersuchung.
## Widersprüchliche Zahlen
Leider unterlaufen dem Autor eine ganz Reihe kleinerer Fehler. Da finden
sich widersprüchliche Zahlen zu den serbischen Opfern, Todes- und
Geburtsdaten werden bisweilen verwechselt wie auch andere Jahresangaben
nicht immer richtig sind. Bei der Deportation polnischer Juden aus
Bergen-Belsen nach Auschwitz verweist Lustiger auf ein Lager Bergau, das
nie existiert hat. Diese Unstimmigkeiten entwerten das Buch nicht, sie
sollten aber in einer späteren Auflage korrigiert werden.
Niemand weiß, wie viele Menschen durch den Rettungswiderstand in Europa
gerettet werden konnten. Zweifellos waren es Zehntausende. Allein in Berlin
überlebten etwa 1.500 Juden die Nazizeit im Untergrund. Doch mindestens
4.500 andere wurden allein in dieser Stadt entdeckt und ermordet. 30.000
Helfer waren notwendig, um in der Reichshauptstadt 1.500 Juden zu retten,
schreibt Beate Kosmala. Lustiger schätzt die Zahl der Helfer in Europa auf
mehr als 100.000 Menschen. Rund 23.000 von ihnen sind von Jad Vaschem als
"Gerechte unter den Völkern" geehrt worden. Die Ehrungen sind noch nicht
abgeschlossen - auch wenn die Jad-Vaschem-Medaille heute fast nur noch
posthum übergeben werden kann.
27 Sep 2011
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Schleswig-Holstein
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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