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# taz.de -- Syrische Opposition gründet Nationalrat: Mut zur Einigkeit
> Die syrische Protestbewegung ist zersplittert. Ihre dezentrale Struktur
> war anfangs ihre Stärke. Doch der Mangel an Führung und Organisation wird
> zunehmend zum Problem.
Bild: Demonstration in den Straßen von Homs.
BEIRUT taz | Jeden Freitagmittag, wenn der Ruf der Muezzine über Damaskus
ertönt, macht sich Abu Adnan wieder auf den Weg. Nahe der Moschee trifft er
die anderen, junge Männer wie er selbst, mit Plakaten und Digitalkamera in
der Hand. Niemand sagt ihm Bescheid, niemand ermutigt ihn. "Das ist auch
gar nicht nötig", sagt der junge Computeringenieur. "Wir gehen einfach zu
den Moscheen, wo es immer zu Protesten kommt. Es wird auch in dieser Woche
wieder so sein."
Seit mittlerweile mehr als sechs Monaten setzen einfache Menschen Tag für
Tag auf den Straßen Syriens ihr Leben aufs Spiel. An Mut und
Durchhaltekraft mangelt es der syrischen Protestbewegung wahrlich nicht.
Doch alle anderen Faktoren, die sonst für den Erfolg einer Revolution
ausschlaggebend sind - Organisation, Strategie und Führung - fehlen.
In der frühen Phase des Protestes bedeutete diese dezentrale Struktur einen
entscheidenden Vorteil: Das Regime konnte die Revolte nicht ersticken,
indem es einfach die Anführer ausschaltet. Doch genau diese Eigenschaft
erweist sich nun als Problem: Denn seit Monaten steckt der Konflikt in
einer blutigen Pattsituation fest.
Nach Angaben der UN sind mittlerweile 2.600 Menschen gestorben. Die
Kampagnengruppe Avaaz geht in ihrem neuesten Bericht sogar von über 5.000
Toten aus.
"Wir brauchen eine politische Vertretung", sagt Mohammed Ali, ein junger
Demonstrant aus Sabadani nahe Damaskus. "Das ist es, was das Volk fordert.
Die Opposition muss sich einig werden. Ansonsten werden unsere Proteste
letztlich nichts ausrichten."
Denn wie sich die enorme Energie der Demonstranten in konkrete Schritte hin
zu einem politischen Umbruch übersetzen ließe, bleibt einstweilen unklar.
Irgendwer müsste nun Entscheidungen treffen oder Strategien ausarbeiten.
Doch es gibt niemanden, der diese Rolle ausfüllen kann.
Doch nun sind die Dinge in Bewegung gekommen. Vor zehn Tagen kündigte eine
Gruppe von syrischen Regimegegnern während einer Konferenz in Istanbul die
Gründung eines syrischen Nationalrates an, der den politischen Wandel
dirigieren soll. 140 Vertreter wurden gewählt, von denen 70 in Syrien
leben.
Vertreten sind säkulare und islamistische Strömungen. Ob dieses neue
Gremium die Opposition einigen kann, bleibt abzuwarten. Fest steht jedoch,
dass es der bislang ausgereifteste Versuch ist, zu einer gemeinsamen Linie
zu kommen. "Wir haben drei Monate gebraucht, um diese Gruppe überhaupt
zusammenzustellen", sagt Yaser Tabbara, ein Rechtsanwalt in Chicago, der zu
den Organisatoren zählt.
## Zögerliche Mittelschicht
Denn die syrische Opposition ist schwach und zersplittert. Als Grund für
die Uneinigkeit sehen Beobachter weniger ideologische Differenzen als
vielmehr die Egos der Dissidenten. "Für mich ist es ein Mangel an
politischer Kultur", meint Yaser Tabbara. "Wir haben es hier mit einer
Opposition zu tun, die von jahrzehntelangen brutalen Repressionen geprägt
ist. Eine logische Konsequenz ist, dass die Leute es nie gelernt haben
zusammenzuarbeiten und sich eher im Wettstreit miteinander sehen."
Zu den wichtigsten Aufgaben des Rats wird zählen, einen schlüssigen Plan
für den Übergang auszuarbeiten. Konkrete Überlegungen und Vorschläge für
die Zeit nach einem Sturz des Assad-Regimes wären wichtig, um die
Mittelschicht in Damaskus und Aleppo einzubinden, die sich dem Protest
bislang aus Furcht vor Chaos und Bürgerkrieg noch nicht angeschlossen hat.
Vereinzelte Fälle von religiös motivierter Gewalt in den Hochburgen haben
solche Ängste verstärkt. Auch die internationale Gemeinschaft braucht
dringend Ansprechpartner. Männer wie Yaser Tabbara hoffen, dass der
Nationalrat künftig eine Alternative zum Assad-Regime aufzeigen kann. Doch
bis dahin ist es noch ein langer Weg. Zudem haben zuletzt ähnliche
Initiativen in Doha, Kairo und anderen Städten Verwirrung gestiftet.
## Opposition unter Druck
"Die Gründung des Nationalrats ist ein entscheidender Fortschritt", meint
dennoch der syrische Menschenrechtler Wissam Tarif. "Nun müssen die
Mitglieder tatsächlich die Führung übernehmen und eine politische Agenda
formulieren."
Wichtig sei, dass die Regimegegner sich schnell formierten. Denn auf dem
Gremium lastet erheblicher Druck - aus dem Ausland, aber auch aus Syrien
selbst: "Die Menschen auf der Straße haben gesagt: Wir wollen eine Führung,
und wir wollen sie jetzt. Wenn die Opposition jetzt nicht handelt, läuft
sie Gefahr, als Teil des Problems gesehen zu werden - und nicht als Teil
der Lösung."
Dennoch kam es zunächst zu neuen Verwerfungen: Die einen beklagten sich,
dass zu viele Exil-Oppositionelle vertreten sind, andere beschwerten sich
über einen zu starken Einfluss der Islamisten, wieder andere waren
beleidigt, weil ihr eigener Name nicht auf der Liste steht. Die Kritik kam
sowohl aus den Reihen der traditionellen Opposition als auch von jungen
Aktivisten. "Der politische Umbruch in Syrien wird von den Egos einiger
alter Intellektueller und Kids aufgehalten", meint Tarif. "Es kann nicht
angehen, dass diese Leute den Prozess manipulieren."
## Repräsentanten fehlen
Die Diskussion wirft somit auch ein Schlaglicht darauf, dass bisher niemand
die Demonstranten auf der Straße repräsentiert: Die älteren Oppositionellen
setzen sich zwar seit Jahrzehnten für demokratische Veränderungen in Syrien
ein und haben dafür lange Jahre im Gefängnis verbracht. Allerdings schienen
sie vom Ausbruch der Revolte ebenso überrascht wie das Regime selbst.
Die Protestbewegung müht sich zwar, eigene Strukturen auszubilden. Doch die
jungen Aktivisten wissen, dass sie selbst nur geringen Einfluss auf den
Verlauf des Aufstands haben. Denn nach wie vor wird die Revolte vor allem
von dem Zorn der einfachen Menschen getragen. "Die chaotische Straße ist
sehr viel mächtiger, als wir es sind", meint Abu Adnan, der junge Aktivist
aus Damaskus. "Neulich haben wir versucht, ein Sit-in zu organisieren.
Letztlich aber sind viel weniger Leute erschienen als bei den spontanen
Protesten."
Gleichzeitig haben die Aktivisten nur geringen Handlungsspielraum: Viele
von ihnen sind untergetaucht, weil der Geheimdienst nach ihnen fahndet.
Wenn die Sicherheitskräfte sie nicht finden können, verhaften sie oft ihre
Ehepartner oder Geschwister, um sie aus ihren Verstecken zu zwingen.
## Verhaftet und gefoltert
##
Der Tod eines führenden Aktivisten im südsyrischen Ort Daraja belegte erst
vor wenigen Wochen, welche Risiken die jungen Aktivisten auf sich nehmen.
Ghiath Matar, 26 Jahre alt, spielte bei der Organisation der Proteste in
seiner Heimatstadt eine Schlüsselrolle. Mitte September wurde er verhaftet.
Vier Tage später wurde seiner Familie seine Leiche übergeben. Ghiath Matar
ist offenbar zu Tode gefoltert worden.
Die Aktivisten haben den Überwachungsapparat eines der strengst
kontrollierten Polizeistaaten der Welt gegen sich. Sie vernetzen sich
hauptsächlich über soziale Netzwerke im Internet, kennen einander nur unter
ihren Pseudonymen und kommunizieren in verschlüsselten Codes.
"Wenn einer meiner Freunde anruft und sagt: Abendessen ist heute um sechs,
dann weiß ich, dass wir heute um sechs demonstrieren", erklärt Abu Adnan.
In anderen Fällen gründen die Aktivisten für kleinere Proteste jeweils neue
Facebook-Gruppen, um die Nachricht zu verbreiten. Allzu viele Leute können
sie allerdings nicht einladen - sonst kriegen es auch die Geheimdienste
mit.
## Rivalsierende Verbände
Um die Repressionen auszuhebeln, haben sie sich in kleine Zellen
aufgeteilt. Landesweit gibt es ein wirres Nebeneinander von kleinen und
teilweise rivalisierenden Verbänden und Komitees. Wirklich repräsentativ
ist keine dieser Gruppen.
Die beiden bekanntesten Netzwerke werden von Frauen geleitet: Die
Menschenrechtsanwältin Razan Zeitouneh führt die Lokalen
Koordinierungskomitees (LKK) an, die namhafte Oppositionelle Zuhair Atassi
die Union zur Koordinierung der syrischen Revolution (UKSR). Doch statt
ihre Kräfte zu vereinen, haben sich die beiden Organisationen zerstritten -
aus persönlichen Gründen.
Doch trotz aller Schwierigkeiten ist es den Aktivisten bisher gelungen,
gewalttätige Elemente bei den Protesten in ihre Schranken zu weisen,
religiös aufrührerische Slogans zu unterbinden und jede Woche ein
landesweit einheitliches Motto für die Freitagsdemonstrationen vorzugeben.
Zunehmend übernehmen sie nun politische Verantwortung.
Damit machen sich die Protagonisten dieser jugendlichen Revolte bereit, die
Lücke zu füllen, die die etabliertere Opposition bisher offengelassen hat.
"Zunächst ging es bei den LKK nur darum, die Proteste zu organisieren und
die Medien zu informieren", sagt Omar Idlibi, der Sprecher des Netzwerkes.
"Nun aber arbeiten wir zusätzlich daran, eine Vision für die politische
Zukunft Syriens zu entwerfen."
28 Sep 2011
## AUTOREN
Gabriela M. Keller
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