# taz.de -- Verschärfung der Sicherungsverwahrung: Wegschließen leicht gemacht | |
> Die Richter haben den Begriff "psychische Störung" denkbar weit | |
> ausgelegt. Die Folge: Pädophile oder sadistische Straftäter können | |
> leichter für längere Zeit eingesperrt werden. | |
Bild: Das Urteil der Richter: Bei einer psychischen Störung kann die Unterbrin… | |
KARLSRUHE taz | Was ist eine "psychische Störung"? Das musste das | |
Bundesverfassungsgericht jetzt im Fall eines entlassenen | |
Sicherungsverwahrten entscheiden. Die Antwort geht sehr weit: Eine echte | |
Krankheit ist nicht erforderlich, eine Persönlichkeitsstörung mit "abnorm | |
aggressivem und ernsthaft unverantwortlichem Verhalten" genügt. | |
Damit bestätigen die Verfassungsrichter die Linie von Bundesregierung und | |
Bundestag. Straftäter, die aus rechtsstaatlichen Gründen aus der | |
Sicherungsverwahrung entlassen wurden oder entlassen werden sollen, können | |
so relativ leicht hinter Gitter gehalten werden oder neu inhaftiert werden. | |
Betroffen sind bundesweit mehr als 100 Straftäter. | |
Konkret ging es aber um einen Mann aus Nordrhein-Westfalen, der 1994 vom | |
Landgericht Aachen wegen Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern zu fünf | |
Jahren Haft verurteilt wurde. Da es sich um einen Rückfalltäter handelte, | |
ordnete das Gericht anschließende Sicherungsverwahrung an. Das heißt, der | |
Mann musste auch nach Verbüßung der Haftstrafe vorsorglich im Gefängnis | |
bleiben. | |
Die Sicherungsverwahrung begann 1999 und war ursprünglich auf 10 Jahre | |
begrenzt. Da der Gesetzgeber jedoch zwischenzeitlich eine unbegrenzte | |
Verwahrung zugelassen hatte, ordnete das Landgericht Arnsberg 2009 eine | |
Fortdauer der Verwahrung an. | |
## Justiz verschleppte jedoch die Entscheidung | |
Im Sommer 2010 beantragte der Mann jedoch seine Entlassung. Er berief sich | |
dabei auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte | |
(EGMR) in Straßburg, wonach die Verwahrung nicht nachträglich verlängert | |
werden darf. Das Urteil passte zwar durchaus auch auf ihn, die Justiz | |
verschleppte jedoch die Entscheidung. | |
Ende 2010 hatte dann der Bundestag für Fälle wie ihn das | |
Therapie-Unterbringungsgesetz (ThUG) beschlossen. Wer hochgradig gefährlich | |
und zugleich "psychisch gestört" ist, kann in Haft gehalten werden, auch | |
wenn er aus rechtsstaatlichen Gründen eigentlich entlassen werden müsste. | |
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte und erweiterte das ThUG im Mai | |
2011, während es für alle anderen Bestimmungen über die | |
Sicherungsverwahrung eine Neuregelung bis 2013 forderte. | |
Umstritten blieb aber, wann eine psychische Störung vorliegt. Das | |
Oberlandesgericht Hamm entschied im konkreten Fall, dass der Mann nicht | |
psychisch gestört sei. Er habe keine echte psychische Krankheit, sei voll | |
zurechnungsfähig und leide auch nicht an seinem Verhalten. | |
## Narzisstisch-dissoziale Persönlichkeitsstörung | |
Diesen Beschluss hob das Bundesverfassungsgericht nun auf. Für eine | |
"psychische Störung" im Sinne des ThUG komme es nicht auf eine echte | |
psychiatrische Krankheit oder die strafrechtliche Unzurechnungsfähigkeit | |
an. Es genüge bereits eine "dissoziale Persönlichkeitsstörung", eine | |
Störung der Impuls- oder Triebkontrolle oder eine gefährliche | |
Sexualpräferenz wie Pädophilie oder Sadismus. | |
Im Fall des Aachener Straftäters dürfte eine so definierte "psychische | |
Störung" naheliegen. Laut Gutachten hat er eine narzisstisch-dissoziale | |
Persönlichkeitsstörung, er habe keine Empathie für andere, keinerlei | |
Unrechtbewusstsein und suche die Schuld bei seinen Opfern. Über den Fall | |
muss nun das Landgericht Arnsberg neu entscheiden. | |
Nur in einem Punkt hatte der Straftäter Erfolg. Falls er nicht "psychisch | |
gestört" ist, muss er sofort entlassen werden. Eine monatelange | |
Vorbereitung auf die Haftentlassung sei unzulässig, entschied das | |
Verfassungsgericht. Das OLG wollte ihn erst im Dezember entlassen. | |
Hiergegen hatte der Mann geklagt und damit ein echtes Eigentor erzielt. | |
(Az.: 2 BvR 1516/11) | |
6 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Überwachung | |
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