# taz.de -- Entscheidungsstrukturen der Piraten: Wie "flüssige Demokratie" fun… | |
> Der Piraten-Bundesvorstand hat nichts zu sagen, solange die Basis nicht | |
> entschieden hat. Nicht nur die Medien müssen sich daran gewöhnen – auch | |
> mancher Vorsitzende. | |
Bild: Kärtchen heben: Bei den Piraten wird alles gemeinsam entschieden. | |
BERLIN taz | Matthias Schrade sieht nicht aus, wie man sich einen Piraten | |
gemeinhin vorstellt. Mit Anzug und Krawatte wirkt der 32-Jährige | |
selbstständige Finanzanalyst auf den ersten Blick eher wie "ein klassischer | |
FDP-Typ" – das sagt er selbst von sich. Statt bei den Liberalen sitzt | |
Schrade allerdings im Bundesvorstand der Piratenpartei. | |
Dort zog er mit Aussagen, wie man sie eher von der FDP als von den Piraten | |
erwarten würde, nun den Zorn von Basis und Mandatsträgern seiner Partei auf | |
sich. In einem Interview mit dem Handelsblatt hatte Schrader munter über | |
die Euro-Krise geplaudert und gemeint, dass neben Griechenland auch andere | |
Länder aus dem Euro-Raum fliegen müssten zugunsten eines "Kerneuropas". | |
Zwar betonte er, dass es sich um seine persönliche Meinung handele. Doch | |
das ging in der Welle der Empörung, die folgte, unter. | |
"Das Interview ist eine Katastrophe, ein echter Tabubruch", meint Fabio | |
Reinhardt, Fraktionsmitglied der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus. Noch | |
habe sich die Partei keine abschließende Meinung zur Eurokrise gebildet. | |
Mit seiner Äußerung sabotiere Schrade jetzt die Arbeit der entsprechenden | |
Arbeitsgruppen der Partei. "Ein Bundesvorstand darf sich nicht zu einem | |
Thema äußern, das in der Partei nicht fertig erörtert ist. Insbesondere | |
dann nicht, wenn er vorher nicht einmal in die Partei hineingehört hat." | |
An diesem Punkt zeigt sich das Konfliktpotenzial, das die selbst verordnete | |
Basisdemokratie birgt. Ohne dass die Basis gehört wurde, soll der Vorstand | |
weitestgehend stillhalten, so das Ideal. Im Fehlen eines strategischen | |
Entscheidungszentrums sehen einige Politikwissenschaftler schon den Keim | |
des Scheiterns angelegt. | |
## Liquid Democracy | |
Der Politikwissenschaftler Sebastian Jabbusch sieht das anders. Er hat | |
seine Magisterarbeit über die Piratenpartei und ihr Konzept der "Liquid | |
Democracy" geschrieben. Zwar kommt er darin zu dem Schluss, dass der | |
Parteivorstand "in der jetzigen Situation politisch nahezu | |
handlungsunfähig" sei. Die Basis achte "perfide darauf, dass keine Aussage | |
jenseits des basisdemokratisch beschlossenen Parteiprogramms oder | |
abgesegneter Positionspapiere getroffen werde". Letztlich sei das aber die | |
Stärke der Partei. | |
Das Prinzip von Liquid Democracy ermögliche es den Piraten, zu aktuellen | |
Fragen – via Internet und streng basisdemokratisch – eine gemeinsame | |
Haltung zu finden. Jedes Parteimitglied kann entscheiden, ob es eigene | |
Interessen selbst wahrnehmen will oder seine Stimme an andere delegiert. | |
"Das ist der einzige Weg, aus der Handlungsunfähigkeit rauszukommen", sagt | |
Jabbusch. | |
Nur die Medien müssten noch lernen, dass Einzelmeinungen eines Piraten – | |
egal, welche Position er habe – irrelevant seien. "Letztlich sind die | |
Vorstandsmitglieder nicht die Entscheider. Sie besitzen meist auch nicht | |
die fachliche Kompetenz." | |
## Koordinieren statt entscheiden | |
Bernd Schlömer, Bundesvize der Piraten, sieht sich demnach eher als | |
"Koordinator" denn als Vordenker seiner Partei. Zwar würden einige | |
Neumitglieder vom Vorstand erwarten, dass er eine Richtung vorgibt. Sie | |
seien zu den Piraten gekommen, weil sie den Drang verspürten, sich | |
politisch zu engagieren – ohne so genau zu wissen, wofür eigentlich. "Sie | |
wollen von uns wissen, was sie denken sollen. Das sagen wir ihnen aber | |
nicht". | |
Die Richtung der Partei muss vielmehr durch die Basis immer wieder neu | |
bestimmt werden – und zwar auf den Parteitagen, an denen nicht Delegierte, | |
sondern alle Mitglieder teilnehmen können. Nur in Nordrhein-Westfalen sieht | |
man bisher die Gefahr, dass solche "Vollversammlungen" – und damit die | |
Partei – von bestimmten Gruppen gekapert werden könnten. | |
Jedes neue Parteimitglied wird dort künftig auf Mitgliedschaften in | |
verfassungsfeindlichen Organisationen, Vereinen und Parteien hin überprüft. | |
"Wir haben eindeutige Hinweise auf sehr aktive Scientologen unter den neuen | |
Mitgliedern", heißt es zur Begründung aus der Parteispitze. | |
Klar definierte Parteiflügel gibt es bei den Piraten nicht. Bei den Piraten | |
selbst spricht man lieber von Strömungen. "Idealistische Visionäre" etwa | |
werden all jene genannt, welche die Partei mehr über einen neuen | |
Politikstil als über bestimmte Themen definiert wissen wollen. Die | |
Pragmatiker dagegen konzentrieren sich auf das Kernprogramm: Datenschutz | |
und Bürgerrechte sind ihre wichtigsten Anliegen. | |
Ins Berliner Abgeordnetenhaus hat es die Partei geschafft, ohne das Wort | |
"Datenschutz" einmal in ihr Wahlprogramm zu schreiben. Es scheint, als | |
hätten sich derzeit die "Visionäre" in der Partei durchgesetzt. | |
31 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Paul Wrusch | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
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