| # taz.de -- Gesundheitspolitik: Schuss auf Kosten der Kasse | |
| > Rot-Schwarz setzt in Berlin die Drogenpolitik des Vorgängersenats fort: | |
| > Schwerstabhängige sollen künstliches Heroin bekommen. Noch scheitert es | |
| > an der Finanzierung. | |
| Bild: Drogenabgabe in der Schweiz (gestelltes Bild). | |
| In der Drogenpolitik lässt Rot-Schwarz alles beim Alten - zumindest, was | |
| die Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige angeht. Bei den | |
| Koalitionsverhandlungen haben die Gesundheitspolitiker von SPD und CDU | |
| beschlossen, an dem vom rot-roten Vorgängersenat begonnenen Projekt | |
| festzuhalten. "Wir haben uns auf die Integration in das bestehende | |
| Hilfesystem der gesetzlichen Krankenkassen verständigt", bestätigte der | |
| gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Mario Czaja, am Freitag der taz. | |
| Die Landesdrogenbeauftragte Christine Köhler-Azara zeigte sich erleichtert. | |
| "Das ist ein sehr positives Signal". | |
| Um die Bedeutung von Czajas Aussage zu verstehen, muss man wissen, dass die | |
| Berliner CDU in der Drogenpolitik bisher immer eine rückständige Position | |
| eingenommen hat: Spritzenautomaten in öffentlichen Einrichtungen? Nein. | |
| Drogenkonsumräume? Nein. Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, | |
| dass die CDU sich einmal dafür aussprechen würde, Schwerstabhängige in | |
| Berlin mit pharmazeutisch hergestelltem Heroin - Diamorphin genannt - zu | |
| versorgen. | |
| Der politische Wille ist also weiterhin da. Woran es jetzt noch hakt, ist | |
| die Finanzierung des medizinischen Personals in der Anfangsphase. Der | |
| Hintergrund: Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), der das entsprechende | |
| Bundesgesetz aus dem Jahr 2009 umsetzt, stellt hohe Anforderungen an die | |
| Länder und Städte, die künstliches Heroin an Schwerstabhängige abgeben | |
| wollen. Die Suchtkranken müssen länger als fünf Jahre abhängig sein, das | |
| 23. Lebensjahr vollendet und zwei erfolglose Suchtbehandlungen, zum | |
| Beispiel mit Methadon, hinter sich haben. | |
| ## 12 Stunden offen | |
| Aber auch die durchführenden Arztpraxen und Ambulanzen müssen strenge | |
| Voraussetzungen erfüllen, um die Behandlung anbieten zu können, sagte der | |
| Vorsitzender des GBA, Rainer Hess, im Mai 2010. Konkret: Selbst in der | |
| Anfangszeit, wo sich der Patientenstamm langsam aufbaut, muss es drei | |
| Arzt-Vollzeitstellen geben sowie acht bis zehn Pflege-Stellen. Die Ambulanz | |
| muss an jedem Wochentag 12 Stunden geöffnet sein. | |
| Erst wenn 60 bis 100 Patienten behandelt und die Kosten dafür bei den | |
| Krankenkassen abgerechnet werden können, trage sich die Ambulanz selbst, so | |
| die Schätzung der Landesdrogenbeauftragten Köhler-Azara. Die Kosten für das | |
| Personal beziffert sie auf rund eine Millionen Euro pro Jahr. Die einzige | |
| Möglichkeit das Projekt an den Start zu bringen sei, dass der GBA den | |
| Personalschlüssel zumindest in der Anfangsphase herunterschraube, so | |
| Köhler-Azara. "Das ist meine große Hoffnung". | |
| Dass Berlin in Vorleistung tritt, bis sich die Ambulanz selbst finanziert, | |
| hält die Drogenbeauftragte für ausgeschlossen. Bei den letzten roten-roten | |
| Etatberatungen sei aber beschlossen worden, dass das Land die | |
| Investitionskosten für die Sicherung der Räume übernehme. Das Diamorphin | |
| müsse in Tresoren aufbewahrt werden und dürfe nur von bestimmten Personen | |
| an die Patienten ausgeben werden. In einer Drogenambulanz in Hamburg, die | |
| schon länger Diamorphin ausgibt, habe sie sich ein Bild gemacht, erzählt | |
| Köhler-Azara: "Der Schalter, an dem die Spritzen ausgegeben werden, sieht | |
| aus wie bei der Bank." | |
| Rund 10.000 Menschen sind in Berlin abhängig von harten Drogen. Mitarbeiter | |
| der Drogenhilfe schätzen, dass bis zu 300 die Anforderungen für die Abgabe | |
| von Diamorphin erfüllen. Ein mehrjähriger Modellversuch, an dem Berlin | |
| nicht teilgenommen hat, zeigte, dass Schwerstabhängige deutlich besser auf | |
| künstliches Heron reagierten als auf eine Substitution. Sie waren gesünder, | |
| die Beschaffungskriminalität ging zurück. | |
| 5 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
| ## TAGS | |
| Essen | |
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