# taz.de -- Wahlen in Ägypten: Die neue Ungeduld | |
> Die Euphorie scheint verflogen. Ende November finden in Ägypten die | |
> ersten Parlamentswahlen statt. Die Wahlbündnisse ändern sich täglich. | |
Bild: Ägypten vor den Wahlen: Die einen halten sie für verfrüht, andere woll… | |
KAIRO taz | Für Wael Khalil soll die ägyptische Revolution nicht mit einem | |
Wahlzettel enden. "Wir dürfen das Mittel des öffentlichen Protests nicht | |
aufgeben", sagt der Blogger und Mitarbeiter einer privaten Computerfirma in | |
Hinblick auf die Parlamentswahlen, die am 28. November anlaufen. | |
Denn wenn die im Wahlkampf gemachten Versprechen nicht eingehalten würden, | |
könne es durchaus notwendig sein, weiter Druck auf der Straße zu machen. | |
Khalils Zielvorstellung für das neue Ägypten ist anspruchsvoll: "Wir | |
brauchen etwas Besseres als die sogenannte westliche Demokratie. Die | |
Occupy-Bewegung zeigt doch, wie gespalten die Regierenden und die | |
Bevölkerung sind." | |
Khalil gehörte zu den Tahrir-Aktivisten. Er ist Mitglied der | |
Sozialistischen Volksallianz, die sich mit anderen neu entstandenen | |
Parteien und Organisationen zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen hat. | |
Es trägt den Namen "Die Revolution geht weiter" und kam verdammt knapp | |
zustande: erst 24 Stunden vor Ablauf der Registrierungsfrist am 24. | |
Oktober. | |
Khalils Wahlbündnis tritt an gegen die von den Muslimbrüdern dominierte | |
Demokratische Allianz, den liberalen Ägyptischen Block und eine Liste der | |
radikal-islamischen Salafisten. Die liberale Wafd, unter Expräsident | |
Mubarak akzeptierte Oppositionspartei, und die Wasat, eine Abspaltung der | |
Muslimbrüder, haben sich keinem Bündnis angeschlossen. | |
Ehemalige Mitglieder der am 16. April aufgelösten alten Regierungspartei | |
NDP kandidieren entweder auf den Listen anderer Parteien oder treten als | |
Einzelkandidaten an. Viele befürchten darum die Rückkehr prominenter | |
NDP-Vertreter durch die Hintertür. | |
Für Wael Khalil, der sich als Optimist bezeichnet, geht es im Wahlkampf | |
darum, Hoffnung zu vermitteln. "Es wird oft übersehen, wie viel wir | |
erreicht haben", sagt er. Der Kritiker des derzeit herrschenden Militärrats | |
(SCAF) engagiert sich für vorgezogene Präsidentschaftswahlen, damit das | |
Land so schnell wie möglich eine zivile Führung bekommt. Ähnlich | |
argumentiert Mohammed al-Hawary, Mitarbeiter der unabhängigen Zeitung | |
Al-Masry Al-Youm. | |
"Viele haben das Gefühl, es habe sich nichts verändert", sagt er. "Der | |
Militärrat hat keine Geduld mit den Forderungen der Demonstranten, die | |
Aktivisten haben keine Geduld mit dem Militärrat, und die Bevölkerung hat | |
keine Geduld mit der Revolution." Die neuen Organisationen seien schwach, | |
beklagt al-Hawary, hätten wenig Erfahrung, kein Geld und kaum "Verbindung | |
zur Straße". | |
## Viel Verwirrung | |
Statt sich auf einem "revolutionären Image" auszuruhen und einzelne | |
Vorfälle aufs Korn zu nehmen, gehe es jetzt um das große Ganze - und darum, | |
Hoffnung zu vermitteln, sagt der Journalist. Über politische und soziale | |
Forderungen herrscht dabei bislang bei allen weitgehend Einigkeit. Die | |
wichtigsten Punkte sind: politische Transparenz, Mindest- und Maximallöhne, | |
ein verbessertes Bildungssystem, ein soziales Wohnungsprogramm, die | |
Aufhebung des Ausnahmezustands, Schluss mit den Militärtribunalen für | |
Zivilisten sowie Rechenschaftspflicht für alte und neue Machthaber. | |
In Gesprächen mit jenen, die im Wahlkampf aktiv sind, wie auch mit | |
Aktivisten, die an diesem Prozess bewusst nicht mitwirken, fällt oft der | |
Begriff "verwirrende Situation". Noch in der Woche vor Ablauf der | |
Registrierungsfrist änderten sich die Wahlbündnisse fast täglich - ein | |
Gesprächspartner musste erst einmal nachdenken, unter welchem Dach seine | |
Partei gerade antritt. Vor allem weil die Demokratische Allianz und der | |
Ägyptische Block in diesen Tagen ihre Wahlbündnisse verlassen hatten, | |
ergaben sich daraus Möglichkeiten der Neuorientierung. | |
Wenn schon die angehenden Politiker manchmal ein Problem damit haben, den | |
Überblick zu behalten, gilt das erst recht für das Wahlvolk. So gibt es | |
gleich drei Parteien, die das Adjektiv "sozialistisch" in ihrem Namen | |
tragen, und mindestens sechs mit dem Beiwort "ägyptisch". Zwar haben die | |
Medien inzwischen damit begonnen, Vertreter der einzelnen Organisationen | |
vorzustellen, doch in der Öffentlichkeit sind die Namen der Kandidaten | |
bisher weitgehend unbekannt. Hinzu kommt, dass es mit dem offiziellen | |
Eröffnung des Wahlkampfs am 1. November gerade mal vier Wochen bis zum | |
ersten Wahltag sind. | |
Viele befürchten außerdem, dass es in den nächsten Wochen zu Gewalt kommen | |
könnte. Der "Schwarze Sonntag" am 9. Oktober, als im Zuge einer | |
Demonstration 27 Personen, mehrheitlich Kopten, getötet wurden, ist allen | |
noch gegenwärtig. Fällt irgendwo, wie kürzlich geschehen, die Kopie einer | |
Statue eines Pharaos um - vermutlich wegen Erosion -, kommt es zu einem | |
Aufschrei der Empörung über Salafisten, deren Werk es angeblich war. | |
Der Journalist al-Hawary weist darauf hin, dass kleinere Vorfälle häufig | |
aufgebauscht und in einen politischen Kontext stellt werden. Zur Anschauung | |
nennt er ein fiktives Beispiel: Ein Mann belästigt auf einer Straße eine | |
Frau, und Passanten greifen ein und weisen den Mann zurecht. Beim | |
Weitererzählen ist der Mann tot und schließlich mutiert das Ganze zu einem | |
koptisch-muslimischen Konflikt. | |
Doch die Befürchtungen haben auch einen realen Hintergrund. Schließlich | |
sind weiterhin Mubaraks Schlägertruppen existent, die früher vom | |
Innenministerium bezahlt wurden. Berichten zufolge traten sie sowohl beim | |
Sturm auf die israelische Botschaft als auch bei den Vorfällen am 9. | |
Oktober auf den Plan. Für Verunsicherung sorgt auch eine neue Initiative | |
namens "Ägypten über alles", die Presseberichten zufolge in einigen | |
Bezirken Kairos und Alexandrias Plakate aufhängte, mit der Forderung, | |
SCAF-Chef Hussein Tantawi zum Präsidenten zu wählen. Zwar distanzierte sich | |
der Militärrat von der Aktion, doch solche Vorkommnisse öffnen Gerüchten | |
Tür und Tor. | |
## Viel Frust | |
Und so gibt es auch Stimmen, die sagen, der Wahlprozess beginne zu früh und | |
das Land sei dafür noch gar nicht bereit. Wie zum Beispiel Randa Aboubakr, | |
die bei einem Referendum am 19. März dafür gestimmt hat, wie in Tunesien | |
zunächst eine neue Verfassung zu erarbeiten und erst danach das Parlament, | |
das Oberhaus und einen neuen Präsidenten zu wählen. Doch die Mehrheit | |
entschied anders. | |
Aboubakr ist Professorin für Englisch und Vergleichende | |
Literaturwissenschaften an der Kairoer Universität und hatte schon ihren | |
eigenen Kampf mit den Vertretern des alten Regimes auszufechten. In einer | |
selbst organisierten Wahl ihrer Fakultät wurde sie zur neuen Dekanin | |
bestimmt. Doch dann schritt das Kulturministerium ein und monierte, dass | |
Aboubakr Mitglied der 2004 ins Leben gerufenen "Bewegungen des 9. März" | |
sei, einer Gruppe von Akademikern, die sich für die Unabhängigkeit der | |
Universitäten einsetzte. Das Ministerium ordnete eine neue Wahl mit | |
restriktiveren Regeln an, die jetzt landesweit gelten, und jemand anders | |
bekam den Posten. Dennoch, so Aboubakr, sei das immer noch demokratischer | |
als zu Mubaraks Zeiten, als die Dekane ernannt wurden. | |
"In den ersten Monaten nach der Revolution hatte man das Gefühl, dass es | |
vorwärts geht", sagt die Professorin. Das war zu der Zeit, als | |
Demonstrationen auf dem Tahrirplatz die Militärführung dazu zwangen, | |
Mubarak festzunehmen und vor Gericht zu stellen; auch gegen zahlreiche | |
seiner Mitstreiter wurden Verfahren eingeleitet. "Heute hat man das Gefühl, | |
das Rad wird zurückgedreht und die Entwicklung geht wieder in Richtung des | |
alten Regimes", fügt sie hinzu. "Ein Teil der Frustration ist berechtigt, | |
die Leute erwarten Veränderungen." | |
## Viel Skepsis | |
Wie Aboubakr denken viele. Die Sündenliste des Militärrats ist lang: Gewalt | |
gegen Demonstranten, willkürliche Festnahmen, Verfahren gegen Zivilisten | |
vor Militärtribunalen, die erneute Verhängung des Ausnahmezustands. Auch | |
der Journalist al-Hawary würde es für ein "Desaster" halten, wenn sich das | |
neue Parlament als eine Kopie des alten herausstellen sollte anstatt "die | |
Revolution widerzuspiegeln". Die Abgeordneten würden schließlich durch die | |
noch zu erarbeitende Verfassung die "politischen Institutionen für die | |
nächsten 100 Jahre festlegen", ist seine Meinung. Und der politische | |
Aktivist Khalil weist darauf hin, dass "es auf allen Ebenen bergab geht, je | |
länger die SCAF an der Macht ist". | |
So flammt in Kairo derzeit die Debatte über den vom Militärrat geplanten | |
politischen Fahrplan wieder auf: Erst sollen Wahlen zum Parlament und zum | |
Oberhaus stattfinden; danach würde ein von beiden Körperschaften zu | |
bestimmendes Gremium eine neuen Verfassung erarbeiten; und Ende 2012 würden | |
schließlich die Präsidentschaftswahlen erfolgen. | |
Ende Oktober kamen auf dem Tahrirplatz rund 10.000 Menschen zusammen, die | |
ein Ende der Militärherrschaft forderten - von den neuen Bewegungen bis hin | |
zu den Salafisten, die mit ihren etwa radikalislamischen 700 Anhängern zwar | |
das kleinere Kontingent stellten, dafür aber umso lautstärker auftraten. | |
7 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Beate Seel | |
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