# taz.de -- BGH-Urteil zu "Kuckuckskindern": Das letzte familiäre Tabu | |
> Die Sehnsucht nach einer kleinen heilen Welt lässt Paare über die wahre | |
> biologische Vaterschaft schweigen - bis zur Trennung. Die Leidtragenden | |
> sind die Kinder. | |
Bild: Jedes fünfte bis zehnte Neugeborene soll ein Kuckuckskind sein. | |
Er will sein Geld zurück. Logisch. Er ist schließlich getäuscht worden. Das | |
Kind, das der 49 Jahre alte Expolizist für sein eigenes hielt, stammt | |
nämlich gar nicht von ihm. Irgendein anderer Mann ist der biologische Vater | |
des Jungen. Und von dem will er sich das Geld jetzt wiederholen. Die Mutter | |
will aber nicht verraten, wer der andere ist. Pech für den Gehörnten: kein | |
Name, kein Geld. | |
Da wird jeder verstehen, dass der Mann aus Schleswig-Holstein dagegen | |
geklagt hat, der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat ihm am Mittwoch recht | |
gegeben. Es geht um 3.300 Euro Unterhalt und um 1.200 Euro für die | |
Babyausstattung - alles für ein Kuckuckskind, eines von vielen. | |
Wie hoch die Zahl der Kuckuckskinder ist, weiß niemand so genau. Eine | |
britische Studie hat 2005 eine "Kuckuckskinder"-Rate von 3,7 Prozent in | |
Europa ausgemacht, die Ärztezeitung nannte eine andere Zahl: Danach soll | |
jedes fünfte bis zehnte Neugeborene ein Kuckuckskind sein, in Deutschland | |
wären das etwa 25.000 bis 40.000 jedes Jahr. Auf jeden Fall sind es mehr, | |
als man glaubt. Und keiner spricht darüber: Kuckuckskinder sind das letzte | |
familiäre Tabu. | |
Warum eigentlich? Noch nie zuvor gab es so viele Kinder, die mit | |
verschiedenen Vätern und Müttern aufwachsen. Das Auseinanderfallen von | |
biologischer und sozialer Vaterschaft wird heute heftig thematisiert. Die | |
wachsende Zahl von Patchworkfamilien und Zweitehen mit weiteren Kindern | |
zeigt, dass es nicht in jedem Fall das Gen ist, das zusammenschweißt. | |
## Böse Mutter, armer Vater | |
Wenn aber ein Kuckuckskind bekannt wird, wird heftig moralisiert und | |
schnell geurteilt. Auch die Schuldfrage ist rasch geklärt: Die Mutter ist | |
das Miststück, die hat dem armen Vater einfach ein fremdes Baby als seines | |
angedreht. | |
Aber so einfach ist das nicht. Wird ein solches Geheimnis offenbar, | |
betrifft das in jedem Fall das gesamte Familiensystem. Nicht jede Frau ist | |
eine potenzielle Betrügerin, und nicht jeder Mann läuft Gefahr, ein | |
Kuckucksvater zu werden. Nicht wenige Männer ahnen sogar, dass ihre Frau | |
ihnen das Kind einfach untergejubelt hat, einige wissen es von Anfang an. | |
Aber sie drücken dieses Wissen weg - und lieben das Kind trotzdem. Erst | |
wenn die Paarbeziehung auseinanderbricht, soll alles ans Tageslicht. Warum | |
legen Männer so viel Wert darauf, dass das Kind, das sie großziehen, | |
unbedingt aus ihren Lenden stammen muss? Das Beharren auf eindeutige | |
Abstammung legt den Verdacht nahe, dass Männer fest davon überzeugt sind, | |
Träger eines außerordentlich guten Erbmaterials zu sein. | |
Der Grund, warum Männer erst nach dem Beziehungsbruch genauer nachfragen, | |
und der Grund, warum Frauen schweigen, ist simpel: Beide Seiten treibt die | |
Sehnsucht nach der heilen Familie, nach einem Ort, der Schutz bietet vor | |
den vielen Katastrophen des Lebens. | |
Und die Mütter? Die fürchten, den Partner zu verlieren. Ja, damit müssen | |
sie rechnen. Und sie wollen ihr Kind behüten, ihm ein Nest geben. Aber | |
genau das tun Kuckucksmütter nicht. | |
## Leidtragende Kinder | |
Kuckuckskinder sind in diesen Dramen die eigentlich Leidtragenden. Diese | |
kleine Lüge - aus Not, aus Scham, aus Furcht - kann im Laufe der Jahre zu | |
einem Lügengestrüpp werden. Kuckuckskinder merken, dass in ihrer Familie | |
etwas nicht stimmt. Sie stellen Fragen - und viele Mütter lügen weiter. | |
Aber irgendwann fliegt das Geheimnis doch auf. Dann ist die Erschütterung | |
für die Kinder, die zu dieser Zeit oft schon erwachsen sind, noch viel | |
größer. | |
Die Angst der Mütter, ihr Kind zu verlieren, wenn sie ihm von Anfang reinen | |
Wein einschenken, ist in der Regel unbegründet. Im Grunde wollen die Kinder | |
nur die Wahrheit wissen, sie wollen erfahren, woher sie kommen - ein | |
menschlicher Urinstinkt. | |
Dem sollten Eltern nachkommen. Selbst kleine Kinder verstehen mehr, als | |
Eltern gemeinhin glauben. Aber dazu müssen Eltern Vertrauen haben. Und Mut. | |
9 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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Vaterschaft | |
Unterhalt | |
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