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# taz.de -- Osteuropa und die Euro-Krise: Ein Kontinent im Kleinen
> Wer nach einer neuen Begründung für die Stärke Europas sucht, kann sie im
> Osten des Kontinents finden. Ein Plädoyer für Aufbruch, Veränderung,
> Toleranz und Tradition.
Bild: Der europäische Geist konnte in Vilnius nie zerstört werden: das Alte R…
"Eine neue Erzählung über Europa". Als Peer Steinbrück Ende September ans
Rednerpult des Bundestags trat, hatte er sich ein hohes Ziel gesetzt. Es
ging um die Erweiterung des Eurorettungsschirms, und gesucht wurde eine
Begründung dafür, warum es richtig und wichtig ist, dass die Deutschen
Solidarität mit Griechen oder Italienern üben.
Die Erzählung, zu der der ehemalige SPD-Finanzminister dann jedoch anhob,
war keine neue Begründung für die Notwendigkeit eines vereinigten Europa.
Sondern die alte. Die Geschichte von den Grabtafeln in kleinen Dorfkirchen
in der Bretagne oder in Cornwall, die die Namen ganzer Familien
verzeichnen, die den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts zum
Opfer fielen.
Kein Zweifel, diese Erzählung über das unendliche Leid, das die von
Deutschland ausgehenden Kriege dem Kontinent brachten, sie ist die
wichtigste der vielen europäischen Geschichten. Und dennoch reicht sie
heute nicht mehr aus.
Vielleicht klingt es blasphemisch, doch wenn ein Politiker eine vereinigte
EU mit der Begründung propagiert, damit neue Kriege in Europa verhindern zu
können, so handelt er etwa genauso sinnvoll wie ein Händler, der in der
Wüste Regenschirme zum Schutz vor einem drohenden Gewitter verkaufen
möchte. Keiner wird sie ihm abnehmen, weil keiner die Gefahr des Unwetters
sieht.
## Untergang verhindern
Doch Peer Steinbrück ist nicht der einzige Schirmverkäufer. Auch andere
Europapolitiker, egal ob von rechts oder links, tun sich schwer mit einer
neuen Erzählung über Europa. Für sie ist Europa vor allem dazu da, um ihren
und den Untergang des Kontinents zu verhindern. In welchen Winkel der Welt
man auch blickt, Gefahren lauern überall, egal ob diese nun China oder
Russland, Globalisierung oder Überalterung heißen. Natürlich, es stimmt:
Die Zeit der europäischen Nationalstaaten als mächtige Akteure der
Weltpolitik ist endgültig vorbei.
Doch je öfter die Politiker die Gefahren der Globalisierung als Grund für
die Notwendigkeit eines vereinigten Europa beschwören, um so weniger
überzeugend wirken sie. Und umso mehr stellt sich die Frage: Gibt es
eigentlich keine positive Begründung für Europa? Etwas, was einfach nur für
sich sinnvoll ist und nicht, weil damit etwas verhindert werden soll? Man
könnte es freilich auch so formulieren: Gibt es irgendwo in Europa einen
Ort, an dem deutlich wird, warum wir Europa brauchen - nein, falsch - warum
wir Europa wollen?
Vielleicht muss man diese Suche nach einer neuen Erzählung über Europa ja
am Rand des Kontinents beginnen. Dort, wo sich der Einflussbereich der EU
mit dem anderer Großmächte überlappt. Diese Peripherie nur peripher
wahrzunehmen, das war immer das Problem einer EU, die so ganz von ihrem
vermeintlichen Zentrum, den beiden mächtigsten Staaten Deutschland und
Frankreich, bestimmt wird.
Dabei rotiert der viel zitierte Motor der EU eigentlich am Rande des
Kontinents. Und bildet stattdessen die vermeintliche Peripherie das
eigentliche Zentrum. Die geografische Mitte Europas liegt, so haben
Wissenschaftler berechnet, nicht in Berlin und auch nicht in Prag. Sondern
in Vilnius, der Hauptstadt der früheren Sowjetrepublik Litauen. Und diese
Lage, sowohl am Rand wie in der Mitte, sie bestimmt die neue Erzählung über
Europa.
Es gibt in ganz Europa sicher keine andere Stadt, in der sich die Vielfalt
der europäischen Völker und Kulturen so deutlich zeigt wie in Vilnius. Am
Vorabend des Ersten Weltkriegs wurden hier mehr als 80 Nationen und an die
30 Religionsgemeinschaften gezählt. Herausgegeben wurden 69 verschiedene
Zeitungen, viele davon mehrsprachig, so wie auch die Bewohner der Stadt
mehrsprachig waren, ja, sich ihre Sprachen mehr und mehr vermischten.
## Der Geist von Vilnius
Es gab sogar die Meinung, dass die Bewohner von Vilnius, die ihre Stadt
auch Wilna, Wilno oder Wilne nannten, ein eigenes Volk mit vier Sprachen
bilden. In einer Zeit, in der andere Nationen sich der "nationalen
Wiedergeburt" hingaben, bezeichneten sich die Bürger von Vilnius als
"tudejzi" oder "krajowcy", was so viel bedeutet wie die "Hiesigen", die
"Menschen aus dieser Region". Nicht ihre Nation war entscheidend, sondern
ihre Stadt. Nicht ihre Herkunft, sondern ihre Heimat.
So schrecklich die europäische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts war,
die Tradition von Vilnius, ihr, ja, ihr europäischer Geist, der konnte nie
zerstört werden. Nicht durch die deutsche Besatzung, obwohl damals der
größte Teil der Bevölkerung, die Juden von Wilne, umgebracht wurde. Nicht
von der Sowjetmacht, die die litauische Elite nach Sibirien deportierte,
nicht von den Nationalisten und Kapitalisten der Nachwendezeit.
Neunmal wechselte Vilnius zwischen den Weltkriegen seine Befehlshaber,
wurden ganze Bevölkerungsgruppen vertrieben. Und dennoch, wer heute nach
Vilnius kommt, kann sich dort auf Litauisch und Polnisch, auf Russisch und
Deutsch und inzwischen natürlich auch auf Englisch verständigen. Selbst
Jiddisch ist wieder zu hören.
Allerdings musste sich die Stadt dafür immer wieder neu erfinden. Nicht
alten Sicherheiten nachtrauern, sondern stets von vorn beginnen. Kulturelle
Ermüdung gab es so selbst in den düsteren 70er Jahren nicht, nicht zufällig
war Vilnius damals die offenste Stadt der Sowjetunion. Oder, wie es der
litauische Lyriker Tomas Venclova formulierte: "In Vilnius überlebte stets
die Menschlichkeit des Raums, die Vielfältigkeit und Vieldimensionalität.
Es war und ist ein Kontinent im Kleinen". Vielleicht sollte Europa sich
also Vilnius zum Vorbild nehmen?
Doch Vilnius ist nur ein Beispiel. Wer früher, vor dem Mauerfall, von West-
nach Osteuropa fuhr, hatte stets das Gefühl, in einem Raum anzukommen, in
dem die Zeit stillsteht.
## Im Westen ignoriert
Heute ist es genau umgekehrt. Alles verändert sich, ja, bewegt sich immer
schneller. Im Westen ignoriert wurde, wie sehr gerade die jüngsten
Mitglieder der EU unter der Finanzkrise litten. Und mit welcher
Geschwindigkeit sie sich erholt haben. 2008 war Lettland praktisch pleite,
seine Wirtschaftsleistung ging um ein Viertel zurück. Die
Mitte-rechts-Regierung ergriff mindestens so radikale Sparmaßnahmen wie
Griechenland, doch die Letten gingen nicht auf die Straße, akzeptierten
Lohnkürzungen von bis zu 40 Prozent, und in diesem Jahr wächst die
Wirtschaft wieder.
Und obwohl Estland noch 2010 eine Arbeitslosenquote von 17 Prozent hatte,
ist es neben Luxemburg jetzt das einzige EU-Land, das die
Maastricht-Kriterien von Neu- und Gesamtverschuldung einhalten kann. Dass
es seit diesem Jahr zur Eurozone gehört, scheint nicht einmal die Kanzlerin
zu wissen, wie ihre Regierungserklärung vom vergangenen Freitag zeigt.
Aber es ist nicht nur das Tempo. Es ist - entgegen allen Prognosen über die
Rückkehr des Nationalen im Osten - das klare Bekenntnis zu Europa. Bei
einer Umfrage der EU-Kommission im Frühjahr 2010 waren Großbritannien,
Deutschland und Frankreich die Staaten, die der EU am wenigsten vertrauten.
Auf der anderen Seite des Spektrums standen - mit Ausnahme Lettlands - alle
ostmitteleuropäischen Mitgliedsländer.
Und während bei einer anderen Umfrage deutsche Schüler die Bedeutung der
nationalen Gesetzgebung hervorhoben, bewerteten ihre polnischen
Altersgenossen dies als "weniger wichtig". Stattdessen fordern sie eine
gemeinsame europäische Schulpolitik.
## Wie in "Welt von gestern"
Im Osten, nein, in der Mitte Europas entsteht so eine neue, eine positive
Erzählung über Europa. Eine Geschichte, die von Aufbruch und Veränderung,
von Toleranz und Tradition handelt. Natürlich kann man fragen, was diese
Geschichte der neuen EU-Mitgliedstaaten mit der des "alten" Europa zu tun
hat. Und warum ausgerechnet die Geschichte von Vilnius in dieser Eurokrise
interessieren könnte.
Nach fast genau 100 Jahren, nach einer Unterbrechung, die mit dem ersten
der beiden Weltkriege begann, befindet sich Europa nun wieder in einer
Situation, die Stefan Zweig in seiner "Welt von gestern" so beschrieb: "Vor
1914 hatte die Welt allen gehört. Jeder ging, wohin er wollte, ohne auch
nur einen Pass zu besitzen."
Die Bürger der EU brauchen keine Pässe mehr, es herrscht nicht nur
Bewegungs-, sondern auch Niederlassungsfreiheit, die Europäische Union wird
sich vielleicht nicht zu den "Vereinigten Staaten von Europa" entwickeln,
aber ganz gewiss zu einer Vielvölkergemeinschaft. Dabei geht es jedoch
nicht, wie der Osteuropahistoriker Karl Schlögel einmal schrieb, um
"multikulturellen Kitsch". Sondern darum, ob Europa an die schon einmal
erreichte Komplexität und vor allem die Konfliktfähigkeit seiner
multiethnischen Zentren anknüpfen kann.
Selten zuvor hat man gelassenere Menschen erlebt als in diesem Jahr bei der
Sonnwendfeier in Vilnius. Einmal mehr haben sie gelernt, dass nach einem
steilen Aufstieg ein tiefer Fall kommen kann. Und dass es möglich ist,
immer wieder von vorn zu beginnen. Standard & Poor's wird sie nicht
erschüttern.
9 Dec 2011
## AUTOREN
Sabine Herre
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