# taz.de -- Eurokrise als Chance: Wir wollen die Krise! | |
> Wirtschaftskrise, Schulden, Rettungsschirm. Warum das alte System retten, | |
> wenn in Zukunft alles besser werden könnte? Ein Pamphlet für den | |
> Systemwechsel. | |
Bild: Wenn alles für den Arsch ist, hilft nur noch ein neuer Anstrich. | |
Hoch das Herz, nieder mit der Angst! Wir werden sie lieben, die Krise. Wir | |
wollen die Krise. Uns ist langweilig! Wir wollen die totale Eskalation. Wir | |
haben keine Lust mehr auf Rettungsschirme und Rettungsschirme und noch mehr | |
Rettungsschirme. Das ewige "Immer weiter so" widert uns an. Wir wollen die | |
Zerstörung, den Systemwechsel, den ultimativen Neuanfang. | |
Vor der Zerstörung sollten wir uns alle noch maßlos verschulden, Wohnungen, | |
Häuser und Gold kaufen. In unseren Verträgen steht natürlich nichts von | |
irgendeinem Inflationsausgleich. Und wenn die Hyperinflation dann kommt, | |
sind wir mit einem Schlag alle unsere Schulden los. Somit würde die Krise, | |
ganz ohne Revolution, für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. | |
Die Zerstörung ist notwendig, damit etwas Neues entstehen kann. Warum | |
sollten wir das alte System retten? Arbeitslosigkeit, globale Armut, | |
Hunger, Umweltzerstörung, Finanzhaie, steigende Mieten, Hedgefonds, | |
ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen und so weiter und so fort. | |
Weg damit! Systemwandel! Wir brauchen neue Regeln, eine andere Politik, ein | |
gerechteres globales soziales Miteinander. Wir wollen gleiche Lebenschancen | |
für alle! | |
Die Geldentwertung würde zu neuen Formen des Tauschmarktes führen. Die | |
Banknoten wären nur noch wertloses Papier. Die emotionale Kälte des | |
Monetarismus würde durch zwischenmenschliche Tauschbeziehungen ersetzt | |
werden. Biete Kartoffeln gegen Haarfrisur, kaufe Zigaretten für Klamotten, | |
tausche ein Klavierkonzert für die Erstausgabe von Thomas Manns | |
"Buddenbrooks". | |
Wir müssten verhandeln, wieder miteinander reden, kreativ sein. Außerdem | |
hat die Geschichte gezeigt - siehe etwa den Zusammenbruch des Finanzsystems | |
in Argentinien -, dass jede Krise zu neuen Formen der Solidarität führt. | |
Man möchte und darf wieder ganz unmittelbar seine Nachbarn oder Verwandten | |
unterstützen. Die Wohnung oder das Essen wird geteilt, man hilft sich, | |
kommt sich nahe, fühlt sich gemocht und anerkannt. | |
Raus aus dem stahlharten Gehäuse der Moderne, hinein in das fantasievolle | |
Chaos. Die Krise würde die Langeweile zerstören. Niemand könnte sich mehr | |
die Langeweile leisten. Wir müssten unsere Ärsche endlich von der | |
Fernsehcouch erheben und neue Lebensstrategien entwickeln, um zu überleben. | |
## Weg mit der Angstkultur, her mit dem wahren Leben | |
Und diese gottverdammte Sinn- und Identitätssuche wäre auch beendet. Jeder | |
würde von einer existenziellen Wucht getroffen werden, die ihm oder ihr den | |
Sinn des Lebens direkt ins Gesicht schreien würde. Das wäre auch das Ende | |
von diesem allerdümmsten Satz auf Gottes Erden: "Ach, wir leiden ja auf so | |
hohem Niveau." | |
Ist das System erst einmal ruiniert, dann lebt es sich ganz ungeniert. Die | |
Krise würde unser aller Leben wieder spannend und abenteuerreich machen. | |
Adieu, Mittelmäßigkeit - tschüss, Versicherungsmentalität - auf | |
Nimmerwiedersehen, Angstkultur. | |
Die Krise toleriert keine Mittelmäßigkeit, die Krise bedarf der Extreme. | |
Die Fesseln der versklavenden Selbstzufriedenheit wären gesprengt, es würde | |
zu einer ungeheuren Freisetzung von schöpferischer Energie kommen. Wir | |
würden uns alle wieder lebendig fühlen, ja lebendig. | |
Der Wechsel wird uns inspirieren. Wir werden ungeahnte Kräfte in uns | |
wahrnehmen. Unsere geistige Beweglichkeit würde uns überraschen. Wir würden | |
brutal, herzlich, niederträchtig, solidarisch und kaltblütig sein. Echte | |
Gefühle, wahres Leben. Keine Gerede mehr von virtuellen Realitäten. | |
Das Sein würde uns rufen, und wir würden uns fragen, weshalb wir vorher nur | |
solche Waschlappen waren. Wir würden gestärkt aus der Krise hervorgehen. | |
Die Krise ist die Chance, endlich allen zu zeigen, was in uns steckt. | |
Hoch das Herz, nieder mit der Angst! Wir werden sie lieben, die Krise. Wir | |
wollen die Krise. Wir wollen Veränderung! Uns ist langweilig! Wir haben | |
keine Lust mehr auf dieses stumpfsinnige "Immer weiter so!" | |
Fühle dich umarmt, du wunderschöne Weltwirtschaftskrise! Zerstöre unsere | |
Banken, zerstöre unser Geld, zerstöre unser Wirtschaftssystem, zerstöre | |
unser sinnloses Dasein! Komm, Krise, und mach unser Leben wieder | |
interessant! | |
9 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Alem Grabovac | |
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