# taz.de -- Mark Greifs Essayband "Bluescreen": Wir sind eine Waffe | |
> Taucht ein in die Welt hinter den Bildschirmen und kommt daraus mit einem | |
> Plädoyer für die Fortsetzung der Aufklärung wieder hervor: Mark Greifs | |
> Buch "Bluescreen". | |
Bild: "Gott, kann das Internet nicht einfach kaputtgehen?" | |
Das Ende des Internets hat viele Gesichter: Es kann [1][wie ein Stoppschild | |
aussehen], wie ein [2][schwarzes Loch im Weltall] oder als hässliche | |
Website [3][voller Schrift und HTML-Code] daherkommen. In jedem Fall aber | |
ist es ein Scherz - das Internet hat weder Anfang noch Ende und damit ist | |
es der Welt so ähnlich wie es dem Leben des Menschen entgegengesetzt ist. | |
Mark Greif, US-amerikanischer Historiker, Kulturwissenschaftler und einer | |
der Herausgeber des linken Kulturmagazins n+1, betont in seiner neuen | |
Essaysammlung "Bluescreen" diesen Widerspruch zwischen der Unendlichkeit | |
der Welt und der Endlichkeit des Menschen. | |
"Die exzentrischen Umdrehungen des Globus prägen dem Gewebe der Ewigkeit | |
einen Zwischenbericht zum zivilisatorischen Fortschritt auf", schreibt | |
Greif und formuliert auch gleich ein kulturelles Axiom, das seinem | |
Zwischenbericht - denn nichts anderes sind seine Essays - zugrunde liegt: | |
"Dass sich das Alltägliche im Angesicht des Apokalyptischen behaupten möge | |
- das ist meine Hoffnung in dieser Zeit." | |
## Sex und Geld als Medien | |
Greif beherrscht die Dialektik des Denkens ohne Hegelianer oder | |
dogmatischer Dialektiker zu sein. Seine Texte behandeln populäre Themen - | |
sexualisierte Kinder, Reality-TV, Rap - und zertrümmern einfache, | |
populistische Zugänge mit Wissen, Widersprüchen und Wirkungsrezeptionen von | |
Ästhetik, Medien, Philosophie, Literatur, Natur, Utopie. Einem Amerikaner | |
obliegt es also, die Europäer an die europäische Aufklärung zu erinnern und | |
"uns" aufzufordern, dieses Werk aller widrigen Umstände und vielfältigen | |
Ablenkungen zum Trotz weiterzuführen. | |
"Uns", schreibt Greif oft, und "wir". Das starke "Wir" ist seine Waffe, das | |
zugleich die gelegentlichen Vorbehalte europäischer Intellektueller | |
gegenüber den als hyperindividualistisch denunzierten US-Amerikanern | |
obsolet machen soll wie es auch an ein gemeinsames kosmopolitisches | |
Bewusstsein appelliert: "Wir könnten auch ganz anders leben." | |
"Wir" bedeutet bei Greif immer auch, dass "wir" die "totale Ästhetisierung | |
unserer Leben" mit vorantreiben, indem wir über mediale Prozesse nicht | |
genügend nachdenken und unsere Möglichkeiten sie zu verändern nicht | |
ausreichend nutzen. | |
Interessant ist Greifs Medienbegriff, der um Totalität weiß und doch den | |
diversen Einzelerscheinungen erstaunlich viel Raum gibt. Sex und Geld | |
gelten ihm als Medien ("Modi der Repräsentation"), vor allem dort, wo sie | |
als Narrativ ins Bewusstsein der Gesellschaft zurückwirken. | |
Im Essay "Im Hochsommer der Sexkinder" heißt es über sexualisierte Kinder | |
und Jugendliche: "Amerika hat sie mit der Vorahnung einer riesigen | |
Enttäuschung verflucht: Sobald das Fleisch schlaff wird, schwindet noch die | |
letzte Freiheit dahin." Propagiert werde schon lange eine Welt des freien | |
Sex. | |
Dass es sich dabei um ein uneingelöstes Versprechen handele, zeige sich | |
schon darin, dass sich Asexuelle derzeit ständig für ihr Nichttun | |
rechtfertigen müssten. Sexuelle Freiheit, die diesen Namen verdiente, | |
schlösse auch die Möglichkeit ein, sexfrei zu leben, ohne Argwohn zu | |
erfahren. | |
## Die Bluescreens sind Synonyme unserer Alltagskultur | |
Die "Bluescreens", die blaue Strahlung von den Bildschirmen unserer | |
TV-Geräte, Computer und Smartphones, sind Synonyme für eine Alltagskultur, | |
die nur wenig von sich, ihrer Herkunft und ihren Zielen weiß und die im | |
Verdacht steht, mehr Wissen auch gar nicht haben zu wollen. | |
Damit aus einer bloßen Phänomenologie der kulturellen Gegenwart, einer | |
Zurichtung des Einzelnen durch Werbung, Konsum, Jugendwahn, Medien, Trends | |
und Moden mehr wird, also Erinnerung, Reflexion, Utopie - womöglich ein | |
Plan -, arbeitet Greif nach und nach hybride Begriffe und Kategorien | |
heraus, die hilfreich sein könnten, um ein kritisches Bewusstsein zu | |
entwickeln, das über Politik und Ökonomie hinausreicht. | |
Dem Hype um die "messianische Heilsbotschaft des Internets" begegnet Greif | |
nicht mit Verzichtsappellen oder dem falschen Gegensatz zwischen "echtem" | |
und "virtuellem" Leben. Er zitiert einen seiner Studenten: "Gott, kann das | |
Internet nicht einfach kaputtgehen?" und bringt die verbreitete | |
Überforderung vieler mit den Anforderungen der digitalen Welt auf den | |
Punkt. Seine Antwort lautet: Nein, es gehe eben nicht darum, sich zu | |
verweigern, sondern die Last zu schultern, Bericht zu erstatten, | |
Trivialisierungen zu meiden, die Weisheit zu mehren. | |
Die Essays sind angriffslustig und angreifbar zugleich. Einige seiner | |
beschriebenen Abgründe stellen sich bei näherer Betrachtung als Ebenen mit | |
kleinen Senken heraus, so mancher Exkurs in Literatur, Philosophie und | |
griechische Mythologie führt nur umständlich und herbeigebogen zum | |
Ausgangspunkt zurück. | |
Ja, es gibt andere Wege als den von Mark Greif, das Neue zu sehen und zu | |
begreifen. Die Guten unter ihnen werden sich mit seinen irgendwann und | |
irgendwo kreuzen - die Ästhetik und Phänomene der Gegenwart sowie ihre | |
Kritik sind endlich. | |
11 Dec 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.onlinewahn.de/ende.htm | |
[2] http://www.reset.ch/ | |
[3] http://www.dieletztedomain.de/ | |
## AUTOREN | |
Maik Söhler | |
## TAGS | |
tazlab 2012: „Das gute Leben“ | |
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