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# taz.de -- Proteste gegen Putin in Russland: Sie wollen nicht mehr schweigen
> Die Polizei nimmt wahllos Passanten fest. Dennoch verabreden sich
> Rentner, Junge und Studenten im Internet und demonstrieren Abend für
> Abend in St. Petersburg.
Bild: Nur noch ein Gespenst: ein Demonstrant mit Putinmaske am Donnerstag in St…
ST. PETERSBURG taz | Seit Montag nach den Wahlen finden sich viele
Petersburger vor dem "Gostiny Dwor" ein, einer Shoppingmeile am
Newski-Prospekt im Herzen der 5-Millionen-Einwohner-Stadt, um für ehrliche
Wahlen zu demonstrieren.
Die 25-jährige Anja Sagorodnewa war am Dienstagabend erstmals mit dabei. Um
acht Uhr rief sie ihre Schwester an, als man sie gerade zu einer
Milizstation fuhr. Dann schwieg das Telefon, das Akku war leer. "Ich war
auf eine Festnahme gar nicht vorbereitet", erzählt Anja. "Die ganze Nacht
war ich in Untersuchungshaft, ohne Wasser und Essen. Am nächsten Morgen
dann fuhren sie uns zum Gericht."
Einen Richter allerdings bekamen sie nicht zu sehen. Dutzende von
Verhafteten saßen in fünf Bussen. "Wir saßen den ganzen Tag und warteten,
bis es dunkel wurde. Wahrscheinlich wollten sie nicht, dass wir uns schon
wieder zum Gostiny Dwor aufmachten. Um zehn Uhr brachten sie uns zurück zur
Miliz, wo wir noch eine Nacht in Zellen verbachten."
Am selben Abend, als Anja festgenommen wurde, nahmen sie auch Sascha Krylow
mit. Der 14-Jährige spielt Klarinette, kam vom Musikunterricht. An der
U-Bahn-Station Gostiny Dwor wartete seine Mutter. Sie habe ihren Sohn
bereits kommen sehen, erzählt sie. Plötzlich hätten Polizisten der
Sondereinheit Omon die Menschen eingekesselt. Sascha schlugen sie das
Telefon aus der Hand, dann fuhren sie mit ihm davon. Journalisten
berichteten umgehend über die Festnahme von Sascha Krylow, und sie fanden
heraus, in welcher Milizstation er einsitzt.
## Das Verhörprotokoll war schon ausformuliert
Fünf Stunden später war Sascha wieder bei seinem Vater. "Sogar das
Verhörprotokoll für meinen Sohn hatten sie schon ausformuliert", erzählt
Saschas Vater. "Dort stand: "Verhaftet um 19.15 Uhr nach Rufen ,Nieder mit
der Partei Vereinigtes Russland'. Doch Saschas Unterricht endete erst um
fünf nach sieben", sagt der Vater weiter. Dabei habe sich Sascha nie für
Politik interessiert. "Auf dem Nachhauseweg berichtete Sascha, er habe
ganze Stapel von fertig ausgefüllten Protokollen gesehen. Grund und
Zeitpunkt der Verhaftung seien schon eingetragen gewesen. Nur der Name war
noch frei."
In einem der Polizeibusse haben sich ein junger Mann und ein junge Frau
kennengelernt. Beide haben am Sonntag in Wahlkommissionen mitgearbeitet.
"Bis vier Uhr morgens haben wir in der Wahlkommission gesessen" beginnt
sie. "Ich habe gesehen, wie viele Stimmen wirklich für das Vereinte
Russland abgegeben worden sind."
"Gewonnen hat bei uns Gerechtes Russland", erzählt der Mann, "an zweiter
Stelle lag Vereintes Russland mit knapp 20 Prozent. Später habe ich dann
das Wahlergebnis für unsere Stadt gesehen. Danach liegt Vereintes Russland
bei 36 Prozent - das sin 15 Prozentpunkte mehr als in unserem Wahlbezirk
und den Bezirken, deren Ergebnisse ich kenne. Vorsichtig gesagt, passt mir
das nicht."
## "Ich bin für ehrliche Wahlen"
Studierende, Kinder, Schüler schlugen im Internet umgehend Alarm. Bald
darauf machten sich Hunderte am Montagabend auf den Weg zum Gostiny Dwor.
Und sie taten es auch am nächsten Abend und am nächsten wieder, weil sie
sich als Wähler betrogen fühlen. Sie wollen nicht mehr schweigen.
Eine von ihnen ist die Rentnerin Tatjana. "Im sozialen Netzwerk vKontakte
habe ich 300 Freunde und noch einmal 100 Abonnenten. Ich hatte die
Statusmeldung "Ich bin für ehrliche Wahlen" abgesetzt und alle aufgerufen,
den Machthabern das Gleiche zu sagen. Inzwischen trage ich diesen Satz
sichtbar auf meinem Halsband, so lange, bis Neuwahlen angesetzt werden oder
die Machthaber zumindest die Fälschungen einräumen."
## Die Polizei ist ratlos
Über 500 Menschen hatten sich am Dienstag vor dem Gostiny Dwor eingefunden.
Sie singen die russische Nationalhymne. Das hatte es hier noch nicht
gegeben: Alte Menschen, Jugendliche, zufällige Passanten singen die Hymne.
Die Polizei ist ratlos und schweigt.
Nach einigen Minuten kommt dann doch Bewegung in die Reihen der
Omon-Polizei. Die Menge singt inzwischen "Katjuscha", ein bekanntes
Kriegslied. Nach den ersten beiden Strophen unterbricht die Polizei den
Chor.
Doch am nächsten Abend werden die Menschen wieder dort stehen und wieder
singen. // (Aus dem Russischen Bernhard Clasen)
9 Dec 2011
## AUTOREN
Alla Maximowa
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