# taz.de -- Neue Kommune Witzenhausen: Wie die Krise in die Kleinstadt kam | |
> Madrid, New York und Frankfurt sollen die globalen Krisenzentren sein. | |
> Doch auch in der nordhessischen Provinz treffen die Bürger auf den | |
> Kapitalismus. | |
Bild: Das "Fachgeschäft für Weltrevolution" und seine Freunde. Zu kaufen gibt… | |
WITZENHAUSEN taz | Ob diese Kapitalismuskrise in Witzenhausen beginnt oder | |
ob sie hier endet, das lässt sich schwer sagen. | |
Es ist ein kalter, dunkler Spätnachmittag im Winter. Über dem | |
Kopfsteinpflaster der Innenstadtgassen lassen die Weihnachtslichter die | |
Fassaden alter Fachwerkhäuschen aufscheinen. Die Sonne ist untergegangen, | |
die Bäckersfrauen räumen das letzte Brot des Tages aus den Regalen. Nur in | |
einem der Geschäfte in der Ermschwerder Straße geht es noch laut zu. | |
Es ist das "Fachgeschäft für Weltrevolution", so zumindest nennt sein | |
Betreiber Hans Spinn diesen Krämerschuppen, seine Ideenschmiede. Er lacht | |
schelmisch in sich hinein. "Spinnen", sagt er, "das ist auch ein Handwerk." | |
Geht es nach Hans Spinn, dann darf die bunte und friedliche Weltrevolution | |
hier und heute beginnen. Gerne auch in Witzenhausen. Nötig wäre es. | |
15.500 Einwohner hat die alte Gemeinde in Nordhessen. Die Regionalbahn hält | |
hier, die Werra fließt durch den Ort, Kirschbäume stehen an den Hängen. Wer | |
etwas über ökologische Landwirtschaft erfahren will, ist in der kleinsten | |
Universitätsstadt Deutschlands gut aufgehoben. | |
Hier, wo sie stolz darauf sind, die Biotonne erfunden zu haben, treffen | |
zwei ganz gegensätzliche Elemente der Kapitalismuskrise aufeinander: Der | |
kommunale Politikbetrieb, der immer mehr selbst in den Strudel der globalen | |
Krise gerät, und die Lösung dieser Krise, die von der Occupy-Bewegung | |
weltweit gefeiert wird: die radikale Idee der Kommune und der | |
Selbstbestimmung. | |
## Zwischen Revolution und Sparzwang | |
Claas Michaelis ist so etwas wie ein Stadtchronist. Hinter dem Marktplatz | |
am Rathaus leitet der 34-Jährige die Redaktion der Witzenhäuser Allgemeine. | |
Sein Haarschnitt ist adrett, sein Büro steril, der graue Pullover | |
faltenfrei. Michaelis ist einer, der für die Leser hier täglich neu | |
einordnen muss, was ganz normaler Wahnsinn einer hessischen Kleinstadt ist. | |
Und wo der Wahnsinn aufhört. Und er ist einer, der einschätzen soll, ob man | |
Hans Spinn und seine Leute aus dem Revolutionsgeschäft für voll nehmen muss | |
- und doch eher die machtlos agierenden Kommunalpolitiker mit ihrem | |
alternativlosen Sparzwang für bekloppt erklärt. | |
Eigentlich steht der Schreibtisch von Claas Michaelis genau zwischen diesen | |
beiden Polen der Kapitalismuskrise in Witzenhausen. | |
55 Millionen Euro, das ist - bei einem Jahreshaushalt von 25 Millionen - | |
der Schuldenberg, den die Stadt vor sich herschiebt. Allein zwei Millionen | |
Euro zahlte die Stadt im Jahr 2011 an Zinsen nur für Schulden, mit denen | |
der Haushalt belastet ist. Und jetzt haben sich die gewählten Vertreter und | |
die Kämmerer der kleinen Kommune auch noch ordentlich verhoben. Zwei | |
Millionen Euro muss die Stadt voraussichtlich abschreiben, weil sie in | |
Krisenzeiten in riskante Finanzgeschäfte investierte. Eigentlich sollte mit | |
den sogenannten Swap-Papieren die Zinslast gesenkt werden. Doch das | |
Gegenteil war der Fall. Jetzt schimpfen die Kommunalpolitiker hier über die | |
Banken. Und die Banken schimpfen zurück. Witzenhausen ist da keine | |
Ausnahme. | |
Deshalb läuft in den Amtsstuben der hessischen Ministerialverwaltung | |
derzeit die Planung für eine Art Entmündigungsverfahren: Während Merkel, | |
Sarkozy, Barroso an sogenannten Schutzschirmen für Europa basteln, arbeitet | |
die hessische Regierung an einem "Kommunalen Schutzschirm Hessen". | |
Ein erster Entwurf liegt auf dem Schreibtisch von Claas Michaelis. "Wenn | |
die Kommunen jetzt nicht gehorchen, dann können sie künftig faktisch | |
entmachtet werden", sagt er. Der Deal: Das Land Hessen übernimmt einen Teil | |
der Schulden - dafür müssen die Kommunen und ihre Bürger ihr letztes Hemd | |
geben. "Dann könnte mit einem Schlag die Grundsteuer auf Grundstücke und | |
Gelände mal eben verdoppelt werden. Das trifft sofort jeden Bürger. Und da | |
reden die in Berlin allen Ernstes noch von Steuersenkungen." | |
Die Krisenbilanz ist schon jetzt beachtlich: Während die Grundsteuer in | |
Witzenhausen von 2001 bis 2010 um 3,3 Prozent stieg, stieg sie allein in | |
den letzten zwei Jahren um satte 22,6 Prozent. | |
## Die Krise in Klein | |
Angela Fischer, CDU-Bürgermeisterin im Ort, sagt: "Geht es nach diesem | |
Entwurf, dann könnten sich diese Abgaben bei uns noch mal verdoppeln." Seit | |
fast 20 Jahren, klagt sie, sei die Stadt mit strenger | |
Haushaltskonsolidierung beschäftigt. "Aber nun ist diese Verschuldung kaum | |
noch zu bewältigen. Wenn nichts mehr da ist, worüber sie entscheiden | |
können, dann frustriert das auch die Lokalpolitiker." | |
Das ist ein Teil der politischen Krise von Witzenhausen. Dazu kommt: Die | |
Region wird ärmer, weil die Menschen fortziehen. Und weil die | |
Beschäftigtenquote bei der Kaliförderung flussaufwärts wichtiger als der | |
Umweltschutz ist, schimpfen in Witzenhausen alle über die Wasserqualität | |
der Werra. | |
Witzenhausen, das ist Kapitalismuskrise in Klein: Es gibt hier ein Stück | |
ökonomischer Krise, ein Stück ökologischer Krise und ein Stück sozialer | |
Krise. Und deswegen gibt es im Ort das Fachgeschäft für Weltrevolution. | |
Bunt und wild hat Hans Spinn hier Zeug gesammelt: Poster mit Parolen, | |
Postkarten mit revolutionären Grüßen, Kinderbilder, eine Weltkugel, ein | |
Handbuch für Seidenmalerei und jede Menge Fahrradkrempel, damit die Leute | |
ihr Rad günstig reparieren können. Ein kleines Traumgeschäft. Geld fließt | |
hier nicht, aber Ideen gibt es reichlich. | |
Hans Spinn, 55, personifiziert so etwas wie die kleinste Occupy-Bewegung | |
der Welt. Als beim internationalen Widerstandstag am 15. Oktober in vielen | |
Städten weltweit Demonstrationen stattfanden, schmunzelten einige in | |
Deutschland auch über "Occupy Witzenhausen". | |
## Kirschblütenwährung | |
Doch während in den globalen Metropolen und den kommunalen Parlamenten die | |
Politik an den Prinzipien des Kapitalismus verzweifelt, arbeiten die | |
Witzenhäuser aus dem Revolutionsgeschäft seit Jahren schon an ihrer eigenen | |
Vision. Als der mediale Hype um "Occupy" im Herbst seinen Höhepunkt hatte, | |
kämpften sie in Witzenhausen schon lang für den Erhalt ihres | |
Gemeinschaftsgartens. Heute ist das Gelände verkauft, an einen Investor. | |
Silvia aus dem Gemeinschaftsgarten, Peter und Manfred, die für ein | |
Sozialticket kämpfen, Heidi, die gegen die Windanlagen ist, Roland von der | |
Erwerbsloseninitiative und einige andere: An diesem Nachmittag sind sie | |
alle in Spinns Fachgeschäft. Das Arbeitsamt nennt manche von ihnen | |
"erwerbslos". Aber sie nennen sich "Vollzeitaktivisten". | |
"Es geht um eine neue Stadt, eine neue Kommune", sagt Manfred. Einen | |
Tauschring haben sie eingerichtet, eine kollektivierte Gemüseversorgung | |
organisiert - mit Jahresabo für Möhren. Das mit dem 2004 eingeführten | |
Regionalgeld funktioniert zwar nicht wirklich, aber immerhin hat die | |
Alternative einen Namen: "Kirschblüten". | |
Silvia, 28, hat heute zum ersten Mal das Wochenbett verlassen, ihr Freund | |
Gualter trägt die kleine Ronja in einem lilafarbenen Tragetuch. "Wir können | |
doch nicht auf die Metropolen warten", sagt Silvia. "Es braucht auch | |
revolutionäre Visionen für das Land." Und Roland, 60, erinnert sich an die | |
Tage, als er in Witzenhausen seine Protestkarriere begann: "'Bleibet auf | |
dem Land und wehret Euch täglich!' - das war schon in den 70er Jahren | |
richtig. Und das bewegt uns bis heute." | |
## Der Außenseiterkandidat | |
An der Eingangstür von Spinns kleinem Büro hängt ein "Wahlprogramm zum | |
Selbermachen". "Gründet ein Begattungsinstitut!" steht dort beispielsweise. | |
Und: "Für ein Kleinkindbecken im Freibad!" Eine Forderung lautet: "Mehr | |
Bänke!" In Klammern hat jemand dahintergeschrieben: "Bessere Banken!" | |
Über vieles davon lächelt Claas Michaelis. Er weiß, dass nach der Geburt | |
der Utopie nur selten Platz für Großes war. Er weiß auch, dass die | |
Weltrevolution nicht in Witzenhausen beginnen wird. Manche Revolutionen | |
aber beginnen im Kleinen. | |
Im Januar sind in Witzenhausen Bürgermeisterwahlen. Dann tritt Hans Spinn | |
zur Wahl an. Als Parteiloser. Die nötigen Unterschriften dafür hat er | |
zusammen. Und weil er als ein drolliger Kauz und liebenswerter Verrückter | |
gilt, der einige Schicksalsschläge hinter sich hat und deswegen unter | |
Betreuung steht, haben manche im Örtchen sogar Angst vor ihm. | |
Im Februar entscheidet das Frankfurter Landgericht darüber, ob die Krise | |
der Stadt eine ökonomische oder eine politische ist: Ließen sich die | |
Finanzbeamten der Stadtverwaltung übers Ohr hauen - oder hätten sie wissen | |
müssen, was sie mit ihren Geschäften riskieren? Im Jahr 2012 wird auch der | |
hessische "Schutzschirm" auf den Weg gebracht. Und im Januar sind | |
Bürgermeisterwahlen in Witzenhausen. Hans Spinn aus dem Revolutionsgeschäft | |
wird dann keine Chance haben gegen die Kandidaten von CDU und SPD. | |
22 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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