# taz.de -- Großkundgebung in Ungarn: "Die Republik, die gibt es noch!" | |
> Über 100.000 Menschen demonstrieren in Budapest gegen die neue Verfassung | |
> und die Regierung des Premiers Viktor Orbán. Sie fürchten um den Kern der | |
> Demokratie. | |
Bild: Wutbürger - hier in Budapest. | |
WIEN taz | Das Wutbürgertum greift zusehends auf Ungarn über. Eine | |
Großdemonstration vor der Oper in Budapest brachte am Montag an die 100.000 | |
Menschen auf die Straße. "Die ungarische Republik gibt es noch!" war das | |
Motto, das die Veranstalter für den Aufmarsch ausgegeben hatten. Denn im | |
Festsaal der Oper saß Premier Viktor Orbán gleichzeitig einem Festakt vor, | |
mit dem die neue Verfassung gefeiert wurde, in der die "Republik" | |
verschwunden ist: Das Land heißt jetzt nur mehr Ungarn. | |
Diese Änderung allein hätte kaum eine solche Menschenmenge auf die Straße | |
gebracht. Die Demonstranten wenden sich gegen ein Grundgesetz, das den | |
autoritären Bestrebungen des Ministerpräsidenten den legalen Rahmen zu | |
bieten verspricht. Zuletzt wurden die Nationalbank und damit die | |
Währungsreserven von geschätzten 35 Milliarden Euro unter die Kontrolle der | |
rechtsnationalistischen Fidesz-Regierung gebracht. | |
Aufgerufen zur Demo hatte der Gewerkschaftsbund Szolidaritás. Doch binnen | |
weniger Tage entstand eine bunte Plattform aus teilweise neuen | |
Organisationen und Bündnissen, wie Occupy Hungary, Attac, Lesben, | |
Transsexuellen und Internet-Foren, bis hin zur Grün-Partei LMP. | |
## Die Offiziellen unterschätzten die Kraft der Opposition | |
Von offizieller Seite dürfte die Mobilisierungskraft der Opposition | |
unterschätzt worden sein. Denn zahlreiche Festgäste, die durch die | |
Demonstration zum Eingang der Oper vordringen wollten, blieben, Einladungen | |
schwenkend, vor dem Polizeikordon stecken. Damen mit Perlenketten und in | |
dicken Pelzmänteln mussten sich Sprechchöre wie "Schämt euch!" oder | |
"Ratten" anhören. Premier Orbán, der die Bedeutung des Aufmarsches wie | |
üblich herunterzuspielen versuchte, empfahl sich nach der Veranstaltung | |
lautlos über die Hintertreppe. | |
Die Demonstration selbst glich zeitweise einem Open-Air-Konzert, bei dem | |
sich coole Jazzmusik, Hungarorock und Bob-Dylan-Klassiker abwechselten. | |
Eine kleine Gruppe von Neonazis, die mit nationalistischen Fahnen und dem | |
Anspruch "Die Straße gehört uns" Stunk machen wollten, zogen in ihren | |
Springerstiefeln bald wieder ab. "Die haben schnell gemerkt, dass sie nicht | |
provozieren können", so ein Demonstrant. Die Polizei musste nicht | |
eingreifen. | |
## Der Staat ist schon gründlich umgebaut | |
In den ersten anderthalb Jahren seiner mittels parlamentarischer | |
Zweidrittelmehrheit untermauerten Machtfülle hat Orbán den Staat gründlich | |
umgebaut. Praktisch alle autonomen Institutionen wurden unter die Kontrolle | |
von Parteifreunden gebracht. Und auf die Plätze zwangspensionierter Richter | |
werden wohl auch Orbán-Getreue nachrücken. | |
Eine säkular und weltoffen orientierte urbane Bevölkerung will sich auch | |
nicht gefallen lassen, wie die Verfassung die Geschichte verklärt und | |
religiöse Symbole als Bestandteile der Nationalidentität verankert. Etwa | |
die Stephanskrone, die vom Nationalmuseum ins Parlament übersiedeln musste, | |
wo sie nebst Zepter und Schwert des Heiligen Ungarnkönigs Stephan I. unter | |
der Kuppel in einer Vitrine von Gardesoldaten in Habachtstellung bewacht | |
wird. | |
In der Verfassung heißt es: "Wir halten die Errungenschaften unserer | |
historischen Verfassung und die Heilige Krone in Ehren, die die | |
verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation | |
verkörpern." | |
Oppositionelle fürchten, dass künftig jeder Scherz über die Staatssymbole | |
und nationalistischen Schwulst mit dem Strafrecht verfolgt wird. Die | |
Internet-Plattform [1][pusztaranger.wordpress.com] lässt es vorerst darauf | |
ankommen und hat ein Bild der Stephanskrone mit einem Hilferuf versehen: | |
"Lasst mich raus! Ich bin ein Museumsgegenstand und verkörpere gar nichts!" | |
3 Jan 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://pusztaranger.wordpress.com | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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