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# taz.de -- Pflegealltag in Deutschland: Minusgeschäft Demenzkranke
> Demente sind auf Angehörige angewiesen: Was passiert wenn sie ins
> Krankenhaus kommen? Sie landen in einem System, wo sie als Minusgeschäft
> wahrgenommen werden.
Bild: Die Kraft der Berührung.
Neben rustikalen Holz- und schweren Polstermöbeln steht ein Krankenhausbett
in Irmtraud Schmidts Wohnzimmer. Die pralle Morgensonne scheint auf ihren
Mann, der zwischen den Kissen liegt. "Na, Mausi, ich zieh dir die Jalousien
zu, damit du nicht so geblendet wirst", sagt sie. Er antwortet nicht. Sein
eingefallenes Gesicht mit den blauen Augen ist zum Fenster gedreht.
Vielleicht schaut er auf die bunten Glaskugeln, die seine Frau vor die
Scheibe gehängt hat und die das Licht vielfarbig brechen. Vielleicht auch
nicht. Herr Schmidt hat fortgeschrittene Demenz. So wie jetzt liegt er
immer da. Reglos, starr, friedlich.
Für den friedlichen Anblick sorgt seine Frau. Irmtraud Schmidt begrüßt mit
festem Händedruck und raumgreifender Stimme. Hund Nellie bellt, aus dem
Radio tönt Popmusik – "das läuft immer, damit das kein totes Haus ist",
sagt sie. Direkt angesprochen auf ihren Mann aber, wird ihre Stimme leiser,
brüchiger.
Sie pflegt ihn, füttert ihn, wäscht und wendet ihn, damit er sich nicht
wund liegt, gibt ihm die Medikamente. Sie schläft auf dem Sofa neben ihm,
weil sie Angst hat, dass er nachts erstickt.
Pflege ist ein Fulltimejob, den viele Angehörige von Demenzkranken
hingebungsvoll leisten. Doch was, wenn der Umsorgte zum Notfall wird? Wenn
er aus der vertrauten Umgebung heraus und ins Krankenhaus gebracht werden
muss?
"Dann kommen sie in so eine neonerleuchtete Rettungsstelle, wo hunderte
Gesichter um sie herumtoben und Wildfremde anfangen, ihnen die Kleider
auszuziehen", sagt Thomas Wichterei, ein junger Krankenpfleger auf der
kardiologischen Intensivstation eines Berliner Krankenhauses.
"Das ist für so einen verwirrten Menschen eine absolute Katastrophe." Die
Patienten auf seiner Station werden etwa wegen Bluthochdruck oder
Herzinsuffizienz eingeliefert, immer häufiger haben sie eine Demenz als
Begleiterkrankung.
## Pflegealltag
Meist kümmert sich Wichterei um vier Patienten. Das klingt nicht nach viel.
Aber: "Darunter sind in der Regel zwei Komapatienten und ein
Alzheimerpatient." Fünf Stunden seiner Arbeitszeit braucht er für die
Komapatienten und eine Stunde, um seine Arbeit zu dokumentieren. "Bleiben
zwei Stunden für einen normalen Patienten plus einen Alzheimerpatienten.
Die brauche ich für Körperpflege, Wäschewechsel und um Essen und
Medikamente zu verteilen. Da bleiben null Minuten, um auf die speziellen
Bedürfnisse des Demenzkranken einzugehen."
Dafür ist auch keine Zeit vorgesehen: Krankenhäuser und Kassen kalkulieren
mit Fallpauschalen und Standardpatienten. Aber Demenzkranke sprengen die
Norm. Schon ihre Nahrungsaufnahme dauert länger. Man muss sie ans Schlucken
erinnern. Oder das Wasser im Glas mit Saft einfärben, damit sie das Getränk
überhaupt wahrnehmen. Thomas Wichterei würde das gerne umsetzen. Aber er
hat keine Zeit.
Und so macht er, was man als gestresster Pfleger so tut: "Wenn die Demenz
so weit fortgeschritten ist, dass der Patient nur noch rumbrüllt, immer aus
dem Bett krabbeln will und nicht versteht, was um ihn herum passiert,
bekommt er Medikamente, die ihn dämpfen."
Und oft werde auch eine Nasensonde gelegt, die direkt im Magen endet und
ihn künstlich ernährt. "Aber es nimmt dem Patienten das komplette Erleben."
Ohne Anreize jedoch zerfällt das Gehirn von Demenzkranken schneller.
Dass in der Krankenhaushektik auf die besonderen Bedürfnisse der
Demenzpatienten wenig Rücksicht genommen wird, werden kann, diese Erfahrung
hat Irmtraud Schmidt gemacht.
Zweimal musste ihr Mann stationär behandelt werden. "Getränke wurden
einfach hingestellt, es wurde aber nicht geguckt, ob er was trinkt. Wir
Angehörige sind hingefahren, haben ihn geduscht, ihm die Zähne geputzt. Wir
sind mit ihm auf die Toilette gegangen, weil das nicht gemacht wurde.
Stattdessen bekam er Windeln." Wegen der schnellen Lösung mit Windeln
verlernte ihr Mann, was er vorher konnte: zur Toilette zu gehen.
## Das Problem mit Angehörigen
"Na, mein Süßer!" Frau Schmidt drückt ihrem Mann einen Kuss auf die Stirn.
Ihn zu pflegen ist für sie selbstverständlich, "er würde das auch für mich
tun". Es machte ihr auch nichts aus, im Krankenhaus mit anzupacken.
Verärgert aber hat sie, dass das Verhältnis zu den Schwestern trotz – oder
wegen - ihres Einsatzes angespannt war: Die besorgte Ehefrau nervte, störte
den Ablauf.
Das sei ein häufiges Problem, das Pfleger Thomas Wichterei kennt. Er selbst
freut sich, wenn es Angehörige gibt, die sich kümmern, "denn oft sind die
Patienten einsam". Andererseits konfrontieren sie ihn immer mit dem, was er
selbst nicht schafft.
"Das Engagement von Angehörigen oder auch Ehrenamtlichen wird bald eine
wichtige Ressource werden", sagt Albert Diefenbacher vom Evangelischen
Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge. Doch vor diesem Trend würden viele
Krankenhäuser noch die Augen verschließen.
Diefenbacher leitet die Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatik, zu der auch zwei geronto-psychiatrische Stationen gehören.
Hier setzt er in kleinem Rahmen um, was eigentlich auf den Normalstationen
nötig wäre: eine stärkere Rücksicht auf die Besonderheiten Demenzkranker
mit spezialisiertem Pflegepersonal. Im Rahmen von Konsiliardiensten tragen
sie ihr dort erarbeitetes Fachwissen in die anderen Abteilungen.
Mittelfristig setzt Diefenbacher aber auf ein weitergehendes Konzept: "Wir
müssen uns darüber Gedanken machen, interdisziplinäre Schwerpunktstationen
für Patienten mit einer Demenz einzurichten. Das heißt, dass es dort einen
Chirurgen für die chirurgischen Fälle gibt, einen Internisten für die
Patienten mit inneren Erkrankungen und so weiter." Und natürlich geschultes
Pflegepersonal.
Das Problem: So etwa kostet Geld. Diesen Einwand lässt Diefenbacher nur
begrenzt gelten. Seine geriatrische Station etwa wurde durch Umverteilung
finanziert, Betten der klassischen Stationen wurden in geriatrische
umgewidmet. Außerdem könne sich eine bessere Versorgung Demenzkranker auch
dadurch rechnen, dass sich ihre Aufenthaltsdauer im Krankenhaus verkürzt.
## Minusgeschäft
Doch solange Demenzkranke als Minusgeschäft wahrgenommen werden und an das
System Krankenhaus angepasst werden statt umgekehrt, so lange bleibt das
Krankenhaus der Gegenwart eine Zumutung. Für die Patienten selbst, aber
auch für Angehörige wie Irmtraud Schmidt oder Pfleger wie Thomas Wichterei.
Er sagt: "Demenzkranke nehmen einem den Spaß am Beruf, weil man Sachen
machen muss, die schaden, obwohl man helfen will." Sie sagt: "Das war so
schlimm mitanzusehen, nie wieder würde ich meinen Mann in ein Krankenhaus
bringen." Was sie bei einem Notfall machen würde? Sie schweigt, überlegt,
dann sagt sie: "Ich weiß es nicht."
1 Jan 1970
## AUTOREN
Anna Corves
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