# taz.de -- Gespräch über ein Leben mit Demenz: "Ich kämpfe wie ein Widder" | |
> Das Gehirn von Helga Rohra zerfällt. Erst brachte sie einzelne Worte | |
> durcheinander, inzwischen sieht sie ständig Halluzinationen. Aber sie | |
> gibt nicht auf. | |
Bild: Noch gesund: Demenz entsteht durch die Zerstörung der Gehirnzellen. | |
Helga Rohra sitzt im Foyer eines Berliner Einkaufszentrums, trinkt Kaffee | |
und redet über Demenz. Vor fünf Jahren wurde diese Krankheit bei ihr | |
diagnostiziert. Da war sie 53 Jahre alt. Angefangen hatte es mit | |
sprachlichen Ausfällen. "Alle, die mich lab haben" sagte sie, wo "lieb | |
haben" gemeint war. Oder "wir sind gut in der Stadt", wo sie doch "in der | |
Zeit" sagen wollte. Auch "Rucki, mein Luki tut mir weh", wird wohl nur ihr | |
Kater Luki verstanden haben, dem sie kund tat, dass ihr der Rücken weh tut. | |
Solche Ausfälle passierten so oft, dass sich die Dolmetscherin nicht mehr | |
darüber amüsieren konnte. Dann stellte sie eines Tages fest, dass sie auch | |
nicht mehr dolmetschen konnte. Die Sprachen waren weg. Ja, selbst ein | |
Butterbrot zu streichen fiel ihr schwer. | |
Burn-Out diagnostizierte der Arzt und schickte sie spazieren. Es wurde nur | |
schlimmer. Rohra fing an zu halluzinieren. Überall sah sich sich. Mal als | |
Kind, mal als Jugendliche, mal als Erwachsene. Auch jetzt im | |
Einkaufszentrum, wo sie Kaffee trinkt, sieht sie sich gleichzeitig | |
mehrfach: "Ich sehe unseren Garten von früher. Mein Gott, da war ich zwei | |
Jahre. Ich schiebe den Puppenwagen. Ich habe ein Kleidchen an, mit Karos in | |
Grün und Weiß und habe so Flaschenlocken. Und da schiebe ich diesen Wagen | |
und schiebe und schiebe. Daneben stehe ich jetzt mit meinem Sohn bei der | |
Einschulung. Der hat eine Jeans an mit bunten Flecken drauf und eine | |
Riesentüte in der Hand. Ich stehe auf einer Seite und rechts steht mein | |
Mann in einem Trachtenjanker", beschreibt sie ihre derzeitigen Visionen im | |
sonntaz-Gespräch. Dass sie dabei Sachen sehe, die sie bewusst gar nicht | |
erlebt habe, sei das Interessante daran. Halluzinationen sind ein typisches | |
Merkmal der Demenzform, die sie hat. | |
## Der Kampf um die Würde | |
Nach Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums leiden derzeit 1,2 Millionen | |
Menschen an Demenz. Bis 2040 werden es, nach vorliegenden Prognosen, zwei | |
Millionen sein. | |
Die Diagnose an sich ist schon schlimm, aber wie sie eine Karrierefrau wie | |
Rohra aus der Mitte der Gesellschaft, mit Reputation und Anerkennung, | |
innerhalb kürzester Zeit in die Ecke der Bedürftigen spülte, weckte in | |
Rohra den Widerstandsgeist. Seither kämpft sie um ihre Würde. | |
Im Zuge ihres Kampfes merkte sie, dass sie nicht die einzige jüngere | |
Betroffene ist. "Man denkt bei Demenz halt an Menschen mit 75, 80, 85. Aber | |
die Jüngsten in meiner Selbsthilfegruppe für Frühdemente sind 31,5 Jahre | |
alt." Und sie stellt klar, dass sich etwas verändert, wenn immer mehr junge | |
Leute erkranken: Denn diese wollen noch etwas. "Wenn Betroffene aus dem | |
Berufsleben gerissen werden und Kinder haben, und einige haben auch kleine | |
Kinder, dann haben sie noch andere Forderungen als jemand, der 85 ist." | |
Etwa wollen sie als Behinderte anerkannt werden. Denn Demente erhalten | |
bisher in der Regel keinen Behindertenstatus. Damit stehen ihnen auch keine | |
Leistungen zur gesellschaftlichen Integration wie persönliche Assistenz zu. | |
Rohra hat viele kognitive Fähigkeiten verloren, aber nicht ihre | |
Redegewandtheit. Im Laufe der letzten Jahre ist sie zur Lobbyistin der | |
Demenz-Betroffenen geworden. Sie ist die einzige Demenz-Kranke, die sogar | |
im Vorstand einer Alzheimer-Gesellschaft ist. Als solche trägt sie die | |
oberste Forderung der Betroffenen in die Medien und die Öffentlichkeit. Sie | |
lautet: "Nichts über uns, ohne uns." Und expliziter: "Nicht den Fokus auf | |
die Defizite, sondern auf existierende Ressourcen. Nicht parentalisieren, | |
sondern eine Rolle geben. Keine Hospitalisierung, sondern Förderung und | |
Aktivieren." All das umzusetzen, wird ein langer Weg. | |
Das vollständige Gespräch mit Helga Rohra erscheint [1][am Wochenende in | |
der sonntaz], dem Wochenendmagazin der taz - an jedem gutsortierten Kiosk, | |
im [2][eKiosk] oder gleich [3][per Wochenendabo]. | |
7 Jan 2012 | |
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## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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