# taz.de -- Interkulturelle Pflege: Die vergessenen Dementen | |
> Alternde Migranten mit Demenz sind eine schnell wachsende Gruppe. Das | |
> Pflegesystem ist allerdings kaum auf ihre speziellen Bedürfnisse | |
> vorbereitet | |
Bild: Mehr Aufmerksamkeit nötig: Maltherapie im Alter | |
Als sie erzählte, dass sie ihre demente Mutter in Pflege geben will, hatten | |
viele Freunde und Verwandte dafür kein Verständnis. "Die haben gesagt: Du | |
musst sie doch zu Hause behalten und da pflegen. Das bisschen | |
Vergesslichkeit ist doch ganz normal", sagt Nerinan Adalan. Doch die | |
50-jährige gebürtige Istanbulerin setzte sich durch und brachte ihre Mutter | |
Binnaz Adalan 2009 in die Wohngemeinschaft des interkulturellen | |
Pflegedienstes Medicus in Wedding. "Jetzt ist alles besser, hier geht es | |
ihr gut", sagt Nerinan Adalan. "Aber vorher musste ich erfahren, dass viele | |
meiner Landsleute zu stolz sind, um Demenz als eine tatsächliche Erkrankung | |
zu akzeptieren." | |
Dass die Demenz eines Angehörigen tabuisiert wird, sei in jeder Familie ein | |
Problem, sagt Derya Wrobel. Die Leiterin des Informationszentrums für | |
demenziell und psychisch erkrankte Migranten (IdeM) stammt selbst aus der | |
Türkei. "Doch bei türkischen und arabischstämmigen Familien ist dies noch | |
ausgeprägter der Fall - bis hin zu der Situation, dass sie gar keine Hilfe | |
suchen", sagt Wrobel. Nur wenige Pflegeeinrichtungen seien auf die | |
speziellen Bedürfnisse ihrer Landsleute und anderer Migranten vorbereitet - | |
etwa darauf, den Verlust einiger geistiger Funktionen gegenüber einer | |
türkischen Familie nicht einfach "Demenz" zu nennen,weil dieser Begriff | |
häufig mit "Idiotie" übersetzt wird. | |
Ursprünglich leitete Wrobel eine Beratungsstelle für türkische | |
Pflegebedürftige beim Sozialverband Berlin-Brandenburg (VdK). Ihr fiel auf, | |
wie früh viele ratsuchende TürkInnen bereits mit Fällen von Demenz | |
konfrontiert waren und dass wenige damit umgehen konnten. Als bei der | |
Vorstellung der Pflegereform der Bundesregierung 2003 das Thema | |
Migrationshintergrund und Demenz nicht einmal erwähnt wurde, gründete Derya | |
Wrobel ihr eigenes Informationszentrum als Projekt beim (VdK). Es war die | |
erste Beratungsstelle in Deutschland, die speziell auf demente Migranten | |
ausgerichtet ist. | |
## Spezielle Angebote | |
Das überrascht im Rückblick, denn viele der hauptsächlich türkischen und | |
italienischen Gastarbeiter aus den 60er Jahren kommen jetzt in ein Alter, | |
in dem sich Erkrankungen dieser Art häufen. Und: Die ausländischen Senioren | |
sind laut Schätzungen des Statistischen Bundesamtes eine der | |
Bevölkerungsgruppen, die am schnellsten wachsen. "Diese Menschen brauchen | |
Angebote, die auf ihre kulturellen Bedürfnisse und Besonderheiten | |
eingehen", sagt Wrobel. "Darauf sind wir auch in Berlin nicht vorbereitet." | |
In dem Altbau, in dem der Pflegedienst Medicus seine interkulturelle | |
Wohngemeinschaft eingerichtet hat, sitzt Binnaz Adalan mit Mitbewohnern aus | |
Indonesien, Deutschland, Algerien, dem Libanon und der Türkei am | |
Küchentisch. Alle zwölf Bewohner des Hauses sind geistig behindert oder | |
dement, nicht alle können Deutsch. So auch die 75-jährige Adalan. Die | |
gelernte Näherin erzählt, sie habe bis zur Rente vor zehn Jahren in einem | |
Bekleidungsgeschäft am Kudamm gearbeitet und ein bisschen Deutsch gelernt. | |
Doch seit ihre Demenz vor acht Jahren einsetzte, hat sie das wieder | |
verlernt. "Mir fallen oft Worte nicht mehr ein", übersetzt die | |
stellvertretende Pflegedienstleiterin Vijdan Kocak. | |
## Ohne Angehörige | |
Noch mehr Sorgen macht sich die examinierte Altenpflegerin um Armad Sanjoto | |
aus Indonesien: Er hat keine Angehörigen mehr in Deutschland. Der | |
75-Jährige muss immer öfter daran erinnert werden, dass niemand um ihn | |
herum seine Muttersprache versteht. Das Pflegeteam ist größtenteils auf | |
türkische und arabische Bewohner eingestellt. Sanjotos Deutsch wird indes | |
immer lückenhafter. | |
Seine Probleme sind symptomatisch für Demenzerkrankte mit | |
Migrationshintergrund. Da bei ihnen das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, haben | |
die meisten Betroffenen Probleme, sich auszudrücken. Insofern ist der | |
Sprachverlust keine Besonderheit von Patienten mit Migrationshintergrund. | |
Doch er wirkt sich gravierender aus bei der Zweitsprache, die weniger gut | |
im Langzeitgedächtnis verankert ist als die Muttersprache. Die Betroffenen | |
vergessen massenhaft Worte, fühlen sich wieder hilflos, von der Umwelt | |
abgeschnitten - es ist fast dieselbe Situation wie bei ihrer Ankunft in | |
Deutschland vor mehr als 40 Jahren. | |
## Viele Spätfolgen | |
Die letzte umfassende Studie über Demenz bei Menschen mit | |
Migrationshintergrund stammt aus dem Jahr 2000, insgesamt gibt es kaum | |
Forschung in diesem Feld. Obwohl sich nun, 50 Jahre nach Inkrafttreten des | |
Anwerbeabkommens, viele Spätfolgen der Arbeitsmigration zeigen. Nach | |
Einschätzung von Kocak ist die psychische Belastung im Zusammenhang mit | |
Migration der Grund dafür, dass zugewanderte Senioren im Schnitt einige | |
Jahre früher dement werden als deutsche: "Wenn ich eine deutsche Frau mit | |
einer gleichaltrigen Türkin vergleiche, sieht diese meist älter, | |
verbrauchter aus", sagt Kocak. "Man sieht ihre Einwanderungsgeschichte | |
förmlich in ihrem Gesicht, weil Isolation und prekäre Arbeitsbedingungen | |
sie stark belastet haben." | |
Heute isoliert der Sprachverlust die Betroffenen erneut und führt im | |
Kontakt mit deutschen Ärzten zu Missverständnissen und Fehldiagnosen. Wenn | |
die Betroffenen überhaupt Hilfe suchen. Sie erlebe selten, dass die | |
Menschen einfach so zu ihr kommen, sagt Derya Wrobel vom | |
Informationszentrum IdeM. Sie arbeite viel mit Aktionen in Gemeinden, in | |
Kooperation mit muttersprachlichen Arztpraxen und mit Medien wie Hürriyet | |
oder dem türkischen Radiosender Metropol fm. "Es braucht niedrigschwellige, | |
eher mündliche Angebote, damit man die Leute erreicht", sagt Wrobel. | |
Davon ist auch Olivia Dibelius überzeugt. Doch es gebe zu wenig dieser | |
Angebote, sagt die Professorin für Pflegewissenschaft an der Evangelischen | |
Hochschule Berlin. Sie führt gerade ein Forschungsprojekt zu Demenz bei | |
Menschen mit Migrationsgeschichte durch. Die Belange von Migranten in der | |
Pflegeberatung würden nicht ausreichend mitgedacht, so Dibelius. Sie | |
kritisiert vor allem die Ausrichtung der 26 so genannten Pflegestützpunkte, | |
die seit 2009 erste Anlaufstelle für Pflegebedürftige und deren Angehörige | |
sein sollen. Die Stützpunkte werden vom Land Berlin und den Krankenkassen | |
getragen. Sie sind Teil des 2008 vom Bundestag verabschiedeten | |
Pflegegesetzes und sollen auf besondere gesellschaftliche Anforderungen vor | |
Ort eingehen. "Das klingt erst mal schön, aber in der Umsetzung hakt es", | |
sagt Dibelius. Das zeige sich schon daran, dass die Beratung von Menschen | |
mit Migrationshintergrund in dem Konzept nicht einmal gesondert erwähnt | |
werde. | |
## Schwer zu erreichen | |
"Wir sind uns bewusst, dass wir viele Menschen mit Migrationshintergrund | |
noch nicht erreichen", sagt Claudia Gorny, Teamleiterin von fünf | |
Pflegestützpunkten unter der Trägerschaft der AOK Nordost. Deshalb arbeite | |
man vor allem an Netzwerken: Selbsthilfeorganisationen oder | |
Nachbarschaftsinitiativen sollen darin eingebunden werden. "Aber speziell | |
für Migranten konzipierte Beratung wird es nicht geben", betont Gorny. Die | |
meisten kämen ohnehin mit einem Angehörigen, der übersetzen kann, und dass | |
andere Personen für die Betroffenen sprechen, sei auch bei deutschen | |
Senioren die Regel. "Mit gesonderten Angeboten würden wir ,die Migranten' | |
über einen Kamm scheren und nicht mehr individuelle Fälle bewerten", sagt | |
Gorny. Das sei Diskriminierung. | |
Derya Wrobel von IdeM möchte auch auf die individuellen Bedürfnisse ihrer | |
Klienten eingehen. Doch sie hat in ihrer täglichen Arbeit oft erlebt, wie | |
türkische und arabische Familien ihre erkrankten Angehörigen noch weiter | |
von der Außenwelt isolieren. Laut Wrobel könnten viele Einwanderer der | |
zweiten Generation, die noch in ihren Herkunftsländern geboren wurden, | |
Demenz tatsächlich schwerer akzeptieren als deutsche Familien. "Das kann | |
man nicht pauschal sagen, ich will meine Landsleute nicht diskriminieren", | |
sagt Wrobel. Doch es gebe kulturelle Unterschiede, die man nicht leugnen | |
könne: Vor allem ältere Migranten mit geringem Bildungsstandard sähen | |
Demenz als Gottesstrafe an - ähnlich wie Wrobel es bei Projekten in der | |
Türkei und Arabien erlebte. Die studierte Sozialarbeiterin vermeidet | |
deshalb das Wort bei ihren Beratungsstunden. "Umschreibt man die Symptome | |
wie Vergesslichkeit oder Koordinationsschwierigkeiten, die das | |
Familienleben auch maßgeblich belasten, finden sich die Angehörigen meist | |
viel eher darin wieder", sagt sie. Dann könnten sie sich auch eher auf | |
vorhandene Angebote einlassen. "Am Ende sind die Leute richtig | |
erleichtert", berichtet Wrobel aus ihrem Berufsalltag. | |
## Lesungen und Musik | |
Das Pflegeteam bei Medicus kommuniziert auf Französisch, Deutsch, Arabisch | |
und Türkisch mit den Bewohnern. Somit sorgen die hauptsächlich türkischen | |
und arabischen Mitarbeiter dafür, dass die Bewohner nicht im | |
monokulturellen Raum leben. Binnaz Adalans Zustand hat sich dadurch seit | |
Beginn ihrer Erkrankung zwar nicht verbessert. Meist liegt die | |
türkischstämmige Seniorin in ihrem Zimmer im Erdgeschoss der Medicus-WG. | |
Doch zweimal die Woche besucht Adalan auch kulturelle Angebote des | |
Pflegedienstes außer Haus. "Besonders gut gefallen ihr die wöchentlichen | |
türkischen und deutschen Lesungen und Musikstunden, die Medicus anbietet", | |
sagt ihre Tochter. "Da hört sie Bekanntes und Unbekanntes und blüht wieder | |
ein bisschen auf." | |
11 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Karen Grass | |
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