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# taz.de -- Frontotemporale Demenz: Plötzlich war da dieser Schimmel
> Mit Ende 20 erkrankt Micha Stiegler an einer seltenen Form der Demenz.
> Nach Monaten in der Psychiatrie stellen die Ärzte die richtige Diagnose:
> FTD. Sie ist hoffnungslos.
Bild: Micha lebt in Ritualen, doch nichts kann er mehr genießen.
"I leg mi aufs Hausbankerl, Papa", sagt Micha. "Mach des, Micha", antwortet
der Vater.
Das Hausbankerl ist Michas Lieblingsort. Er sucht es jeden Tag auf. Fünf
Mal. Zehn Mal. Aber immer nur für wenige Minuten. Er liegt dann auf der
Bank vor dem Haus seiner Eltern, den Kopf auf der Metalllehne. Ohne Kissen,
ohne Decke, auch wenn die Temperatur kaum über null ist. Hektisch kaut er
auf einem rosa Kinderzahnpflegekaugummi herum. Gut zwanzig Stück davon kaut
er. Jeden Tag.
Sein Kiefer mahlt, mahlt, mahlt. Die Augen sind geschlossen. Was geht nur
in seinem Kopf vor? Was bekommt er von der Welt um ihn herum noch mit? Und
wie viel von dem alten Micha steckt in diesem Körper noch?
Plötzlich springt er auf und will einen Salat essen. Sofort. Micha setzt
sich mit einer großen Schüssel an den Wohnzimmertisch. Kein Essig, kein Öl,
nur Blätter. Er stopft sich mit den Händen eines nach dem anderen in den
Mund, kaut, kaut, kaut. Keine zwei Minuten und die Schüssel ist leer. "I
leg mi no mal naus, Papa", sagt er. "Ja, Micha", antwortet der Vater.
So geht das den ganzen Tag.
Micha Stiegler*, 31, leidet an einer seltenen Krankheit, die in wenigen
Jahren zum Tod führt: der Frontotemporalen Demenz. Sie ist eine besonders
tückische Krankheit, da sie meist schon vor dem 60. Lebensjahr ausbricht.
So früh wie bei Micha bricht sie nur ganz selten aus, vielleicht gerade
einmal bei einer Handvoll Fälle in ganz Deutschland, sagt die behandelnde
Psychiaterin.
Die Krankheit ist auch so tückisch, weil die Ärzte sie oft erst spät
erkennen. Anders als bei Alzheimer sterben bei der Frontotemporalen Demenz
vorne im Stirnhirn nach und nach die Nervenzellen ab. Deshalb leidet
zunächst nicht das Gedächtnis oder der Orientierungssinn. Es leidet die
Persönlichkeit. Das Verhalten ändert sich. Das Ich stirbt ab.
Bei Micha Stiegler hat die Krankheit vor etwa drei Jahren angefangen.
Gewissheit, was mit ihrem Micha los ist, hat die Familie Stiegler aber erst
seit dem Frühjahr 2009. So lange dauerte es, bis die Ärzte herausfanden,
dass er an Frontotemporaler Demenz erkrankt ist, kurz: FTD.
Es fing mit einer panischen Angst vor Schimmel an. Immer wenn er einen
schwarzen Punkt sieht oder etwas Weißes, vermutet Micha Stiegler Schimmel.
Auf dem Brot. Im Joghurt. An den Äpfeln. Ständig spült er Becher aus, Müll
trägt er sofort nach draußen. Er wäscht sich zigmal die Hände, duscht
endlos. Er wird wegen der Zwänge später eine Verhaltenstherapie anfangen,
aber sie hilft ihm nicht. Wie soll sie auch? Seine Krankheit ist schlimmer.
Viel schlimmer.
Irgendwann fängt Micha an, Frauen mit sexuellen Sprüchen zu belästigen. Ob
er sie nicht mal besamen soll, fragt er eine Kollegin auf der Arbeit. Er
wird abgemahnt. Und tut es wieder. Was ist nur mit ihm los?
Im Sommer 2008 landet Micha Stiegler in der Psychiatrie. Der Verdacht:
Schizophrenie. Er wird am Ende sieben Monate in stationärer Behandlung
bleiben, vollgepumpt mit Neuroleptika. Aber die Medikamente bringen nichts,
sie sedieren ihn nur und lassen sein Gesicht aufquellen, wie Fotos von
Weihnachten vor einem Jahr zeigen. Sein Blick darauf ist unendlich leer.
Erst weitere Aufnahmen von Michas Hirn im Frühjahr 2009 bringen Gewissheit.
Die Bilder der Tomografen zeigen: das Stirnhirn schrumpft. Diagnose: FTD.
Keine Therapie und kein Medikament können die Krankheit aufhalten.
Micha Stiegler lebt seitdem wieder im Haus seiner Eltern in den bayerischen
Voralpen. Vater Johannes Stiegler ist in Ruhestand und kann sich so
tagsüber um ihn kümmern, während Mutter Maria zur Arbeit geht. Allein
lassen wollen die Stieglers ihren Micha nicht mehr, zu Hause nicht und im
Ort nicht.
Micha Stiegler hat verlernt, was angemessen ist und was nicht, was richtig
ist oder falsch, gut oder böse. Er pinkelt bei offener Toilettentür. In
Restaurants schnappt er sich einfach eine Pommes von einem anderen Teller.
Er fängt plötzlich mitten in einem Laden mit Schuhplatteln an. Und wenn
Geld herumliegt, steckt er es ein. "Er ist wie ein unerzogenes Kind", sagt
der Vater.
Im Ort können sie nichts mit der Erkrankung anfangen. Vater Stiegler hat
aber auch keine Lust, den Leuten alles auf die Nase zu binden. Wenn sie mal
fragen würden: Was hat denn der Micha? Wie gehts ihm? Dann würde er es
ihnen vielleicht erklären. Aber sie fragen ja noch nicht einmal. Sie wenden
sich ab.
Früher war Micha Stiegler ein fröhlicher Mensch, erzählt sein bester
Freund. Heute lacht Micha nicht mehr. Die Emotionen sind wie abgestorben.
Alles scheint ihm egal zu sein. Nachrichten, die Zeitung, Filme. Wenn er
Fernsehen schaut, dann nur Viva und MTV, er zappt dann hektisch zwischen
den beiden Musiksendern hin und her.
Man kann neben Micha sitzen und mit seinem Vater über seine Krankheit
reden: Er reagiert nicht. Bekommt er nicht mit, dass es um ihn geht? Was
nimmt er überhaupt noch bewusst wahr? Micha kennt noch die Namen und die
Gesichter von Bekannten. Oder auch von Orten, an denen er schon war. Aber
ein Gespräch mit ihm zu führen, ist kaum mehr möglich.
Was sind Sie von Beruf?
"Controller."
Was macht ein Controller so?
"Copy, Paste."
Schon wendet er den Blick ab und murmelt: "Nach der Ebbe kommt die Flut".
Das ist aus dem Lied "Mensch" von Grönemeyer. Er macht so was öfter.
Plötzlich platzen Zitate aus ihm heraus. "Wie kommst da jetzt drauf,
Micha?", fragt ihn der Vater dann. "So halt", sagt Micha.
An der Ampel wartet ein Lkw. "RO-KY" steht auf dem Nummernschild. Micha
sagt plötzlich: "Rocky. Rocky Balboa."
Micha Stiegler ist von einer inneren Unruhe getrieben, die sich nur schwer
beschreiben lässt. Der Vater spielt mit ihm "Mensch ärgere dich nicht".
Nach drei Mal würfeln sagt Micha: Machen wir was anderes? Sie gehen
Spazieren, nach wenigen Schritten sagt Micha: Gehen wir wieder heim?
Sein Leben besteht aus Ritualen, die er wiederholt und wiederholt. Essen.
Kaffee. Spazieren. Und immer wieder raus aufs Hausbankerl. Aber er kann
keine Tätigkeit auskosten, er hakt sie nur ab. Zwischendurch stopft er
Süßigkeiten in sich rein, Duplo oder Maoam. Gleich danach kaut er einen
seiner Zahnpflegekaugummis. Um sich innerlich zu reinigen, vermutet der
Vater.
Johannes Stiegler erträgt all das mit stoischer Liebe.
"Sagst es dann, wenns Suppe gibt, Papa"?
"I sags dir, wenns die Suppen gibt."
"Sagst es dann, ge?"
"Ja, mach i."
"Dauert nimmer lang, ge?"
"Des krieg mer scho."
Aber anfassen, ihn umarmen: das darf der Vater nicht. Micha lässt sich
nicht mehr gerne berühren, von Fremden schon gar nicht. Gute-Nacht-Sagen
muss immer Mutter Maria Stiegler kommen, gleich nach dem Abendessen um halb
sieben. Vorher geht Micha aber noch zu seinem Opel und prüft, ob die
Fenster zu sind. Jeden Abend.
Manchmal fahren die Stieglers mit Micha nach München. Dort hat er studiert.
Dort ist auch sein Lieblingscafé, die Bar Centrale in der Nähe des
Marienplatzes. "Ein kleines Stück Italien", hat er es immer genannt. Es
gibt dort kleine Tischchen und Lämpchen, an einer Wand hängt ein Bild der
Radlegende Fausto Coppi. Auch Micha Stiegler ist früher viel Rad gefahren,
am liebsten am Gardasee. Heute ist der Café-Besuch nur noch eines seiner
Rituale. Er bestellt den Cappuccino schon beim Reinkommen und trinkt ihn
mit großen Schlucken aus, den Milchschaum leckt er aus der Tasse. Keine
halbe Minute dauert das, dann sagt er: "Geh mer wieder?"
Noch nehmen die Stieglers ihren Micha überall hin mit. Auf dem Computer
haben sie Bilder vom vergangenen Jahr gespeichert. Am Strand in Italien.
Auf dem Oktoberfest. In den Bergen. Immer ist Micha mit dabei.
Aber wie lange geht das noch?
Vater Stiegler hat sich im Internet informiert. Er hat die Broschüren
gelesen. Er weiß, was bald schon droht. Inkontinenz. Aggressivität.
Sprachstörungen bis zum Verstummen. Gehprobleme. Bettlägrigkeit.
Schluckstörungen. "Wenn man des alles so liest … ", sagt Johannes Stiegler
und fängt an zu schluchzen.
Die Schluckstörungen sind es auch, die bei vielen FTD-Kranken zum Tod
führen. Essensbrocken landen in der Luftröhre und lösen eine
Lungenentzündung aus. Manchmal bleibt die Todesursache aber auch unklar.
Doch dass der Tod kommt, ist unabwendbar. Die Lebenserwartung vom Beginn
der Krankheit an liegt im Schnitt bei sechs bis acht Jahren. Bei Jüngeren
verläuft sie oft sogar noch schneller.
Johannes Stiegler kennt diese Zahlen. Und natürlich hat er sich das früher
ganz anders vorgestellt: Dass der Micha sich um ihn kümmert, wenn er alt
wird und stirbt. Jetzt muss der Vater seinen Sohn pflegen und zusehen, wie
er stirbt. Sie halten das irgendwann nicht mehr aus, haben die Ärzte zu ihm
gesagt. Aber Johannes Stiegler will seinen Micha so lange zu Hause
behalten, wie es nur geht. Er hat sich ein Heim angeschaut. Er kann sich
das nicht vorstellen. Er sagt: "Im Altenheim san Alte."
Noch ist Micha Stiegler körperlich fit. Er ist ein kräftiger Kerl mit
kurzen blonden Haaren. Ein schöner Mann. Jeden Nachmittag macht er Sport.
Noch so ein Ritual. Er holt sich dann seine orangefarbene Jacke, zieht die
Kapuze über den Kopf und läuft drei Mal ums Haus, den Berg auf der einen
Seite hoch und auf der anderen wieder runter. Auch bei strömendem Regen.
Oben in Michas Zimmer steht ein Bild, das ihn bei einem Mountainbike-Rennen
am Gardasee zeigt. Daneben sieht man ihn als Jugendlichen mit seinem
Handballteam. Er steht in der Mitte der Mannschaft.
Von seinen alten Freunden ist nur einer geblieben, der ihn regelmäßig
besucht.
Über Michas Bett hängen Fotos aus New York vor neun Jahren. Seine
Exfreundin ist darauf zu sehen. Sie lächelt.
Mit der Krankheit ist die Beziehung in die Brüche gegangen, noch bevor die
tödliche Diagnose feststand. Für Micha sind die beiden immer noch ein Paar.
* Alle Namen geändert.
6 Jan 2010
## AUTOREN
Wolf Schmidt
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