# taz.de -- Hartz-IV-Verfahren: Alle 17 Minuten ein neuer Fall | |
> Das Berliner Sozialgericht, das größte bundesweit, erwartet seine | |
> 150.000. Hartz-IV-Klage. Mehr als die Hälfte der Kläger bekommt zumindest | |
> teilweise recht. Ein Anfang. | |
Bild: Die Zukunft mit Hartz IV – oft vorgezeichnet. Die Zukunft des Sozialger… | |
Es geht um 489,02 Euro. Der Kläger ist am Mittwochmorgen nicht erschienen | |
im Saal 216 des Berliner Sozialgerichts, Anwältin Brigitta Kluge muss | |
allein ran bei diesem Fall um Arbeitslosengeld II, genannt Hartz IV. | |
Es ist eine nicht ganz typische Klage, die jetzt verhandelt wird. Ihr | |
Mandant saß 2009 drei Monate in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Weil | |
er einen Strafbefehl nicht bezahlen konnte, musste er eine Ersatzhaftstrafe | |
antreten. | |
Vor Gericht wird jetzt gestritten, ob er den während der Haft teilweise | |
überwiesenen Regelsatz von damals 359 Euro monatlich zurückzahlen muss. Der | |
Fall ist eindeutig, hat die junge Richterin Karin Kunath in einer halben | |
Stunde geklärt. Menschen, die sich "in stationären Einrichtungen" befinden, | |
in Krankenhäusern oder Gefängnissen, erhalten keinen Regelsatz. | |
Allerdings hat das Bundessozialgericht dies erst 2011 ausdrücklich auch für | |
Ersatzhaftstrafen festgestellt. Die Klage wird abgewiesen. Doch auch das | |
Jobcenter bekommt einen Rüffel: Es hatte dem Kläger einen kompletten Monat | |
lang die Hartz-Leistungen gestrichen - obwohl er neun Tage davon noch in | |
Freiheit war. Auch das muss korrigiert werden. | |
## Der Aktenberg wächst | |
Nur noch wenige Tage, und das bundesweit größte Sozialgericht wird seine | |
150.000. Hartz-IV-Klage zählen. "Eine ernüchternde Bilanz", nennt das | |
Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma auf der Jahrespressekonferenz. Sie sagt | |
aber auch: "Kein Kläger bläst zum Sturm auf unser Sozialsystem. Die | |
Menschen haben konkrete Anliegen aus ihrem Alltag." | |
Es sind immer noch viele, die die Sozialgerichte bei Streit um die | |
Unterkunftskosten oder das Anrechnen von Einkommen zu Hilfe rufen: Allein | |
in Berlin, der Hauptstadt der Hartz-IV-Bezieher, gab es 2011 30.735 neue | |
Verfahren. Das größte Bundesland NRW meldet 28.040 neue Fälle, Bayern, wo | |
die Arbeitslosenrate niedrig ist, immerhin 8.349 bis Ende September. | |
In Berlin und NRW sind die Zahlen zwar minimal zurückgegangen, in der | |
Bundeshauptstadt gab es 1.041 Klagen weniger als 2010, doch die | |
Gerichtspräsidentin gibt keine Entwarnung. Zum einen war der Anstieg in den | |
Jahren zuvor extrem. | |
Zum anderen wächst der Aktenberg: mehr als 40.000 unerledigte | |
Hartz-IV-Verfahren liegen am Berliner Sozialgericht. Sie machen deutlich | |
über zwei Drittel aller Rechtsstreitigkeiten aus. "Das Gericht müsste ein | |
Jahr schließen, um diesen Berg abzuarbeiten", sagt Schudoma. Immerhin mehr | |
als die Hälfte aller bearbeiteten Klagen waren dabei zumindest teilweise | |
berechtigt. | |
Schudoma lobt die Mitarbeiter der Jobcenter als "engagiert und kompetent". | |
Aber sie übt auch Kritik: "Sie kommen mit der Arbeit nicht hinterher." Zu | |
häufig würden Gerichtsverfahren von den Jobcentern um Monate verzögert, | |
weil es an Personal fehle. "Da wird das Gericht zum Mahnbüro", moniert sie. | |
## 60 Gesetzesnovellen | |
Sie hat konkrete Forderungen: Arbeitslose und Jobcenter sollten viel früher | |
miteinander sprechen. "Zu oft setzt man sich erst im Gerichtssaal an einen | |
Tisch." Sie plädiert auch dafür, die Gerichtsgebühr wieder einzuführen, die | |
2006 für die Jobcenter abgeschafft wurde. 150 Euro pro Urteilsspruch sind | |
es, 2,4 Millionen Euro hätten die Jobcenter allein 2011 bezahlen müssen. | |
"Ein starkes Argument für die Förderung außergerichtlicher | |
Streitbeilegung", sagt Schudoma. Auch appelliert sie an den Berliner Senat, | |
eine Verordnung über angemessene Unterkunftskosten zu erlassen. Denn in | |
Berlin wenden Jobcenter immer noch eine Richtlinie an, die das | |
Bundessozialgericht bereits 2010 für rechtswidrig erklärt hat. So sind | |
weitere Klagen absehbar. | |
Anja Huth, Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit, sagt jedoch: "Es gibt | |
keinen Grund, Problemdruck aufzubauen." 2011 habe es mit bundesweit 144.000 | |
Klagen 10 Prozent weniger gegeben als noch 2010. "Der Trend wird sich | |
fortsetzen. Auch weil wir mit mehr unbefristetem Personal arbeiten." | |
Huth betont, dass es gegen 29 Millionen Leistungsbescheide, die die Behörde | |
in 2011 ausgestellt hat, gerade mal 722.000 Widersprüche gegeben habe. Und | |
nur in 0,9 Prozent der Fälle sei ein Bescheid geändert oder aufgehoben | |
worden. "Wir sind auf einem guten Weg", sagt Huth. Zumal die Materie | |
diffizil ist: Unklare Rechtsbegriffe und über 60 Gesetzesnovellen in sieben | |
Jahren machen die Hartz-Gesetze anfällig für Klagefluten. | |
11 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
## TAGS | |
Anwälte | |
Sozialgericht | |
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